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Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)

Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)

Titel: Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximo Duncker
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ein, zwei Kilometer nördlich von hier, der die Angreifer vertrieben hatte. Er ähnelte ihm beim flüchtigen Hinsehen nur, weil er die gleiche Schiebermütze trug und den gleichen Schnauzbart, so wie alle Türken ab Mitte vierzig seit Günter Wallraff.
    Weder Herrn Bigüls Doppelgänger noch dessen Kumpel, der wie dessen Zwilling aussah, wollten nach dem überstandenen Scharmützel van Harms Dank entgegennehmen. Sie wollten auch keine Komplimente über ihren Mut hören. Oder sich gar die Hände schütteln lassen. Im Gegenteil: Sie taten, als verstünden sie kein Wort Deutsch, und nachdem sie weitergegangen und schon ein gutes Stück entfernt waren, beobachtete van Harm, wie der falsche Herr Bigül obendrein ausspuckte. Mit Anlauf quasi und ziemlich geräuschvoll. In hohem Bogen. Die Spucke traf einen Laternenpfahl, blieb zwei Sekunden wie erschrocken dort kleben, bevor sie langsam hinunterzulaufen begann. Aber vielleicht hatte der Wallraff-Imitator bloß einen Krümel im Hals gehabt. Vielleicht eine Fischgräte vom Mittagessen. Man musste schließlich nicht allen immer das Schlimmste unter stellen. Selbst im südlichen Neukölln nicht, wo das nahelag.
    Wie dem auch sei: So sah es nun mal aus in van Harms neuem Viertel, das aus einem halben Dutzend Seiten-und Querstraßen der allseits bekannten Sonnenallee bestand. Aber es war nicht alles schlecht hier, wenn man denn überhaupt das, woraus das Leben eben auch bestand, das Raue, das Arme, das Hässliche, als schlecht bezeichnen konnte.
    Denn war es nicht so, fragte sich van Harm an sonnigen Mittagen an seinem geliebten, wuchtigen Schreibtisch sitzend, der für die zwanzig Quadratmeter seines neuen kombinierten Wohn-und Arbeitsraumes leicht überdimensioniert war, während er schon um diese frühe Uhrzeit an einem Glas Rotwein zweifelhafter Herkunft nippte (ein goldenes Etikett, von silbernen Reben umrankt, auf das drei stilisierte, bronzefarbene Medaillen obskurer Weinakademien geprägt waren), war es nicht so, dass das Geschmeidige, das Harmonische und Schöne erst im Kontrast zum Grauenhaften zu voller Blüte gelangten? Zur wahren Entfaltung?
    Und gab es nicht auch im Grässlichen entdeckenswerte Facetten und liebenswürdige Winkel? Nischen der Geborgenheit?
    Der Kohlegeruch etwa, der bei Tiefdruckwetter durch die Ritzen der undichten Fenster hereinkam, hatte van Harm an jene schöne Zeit Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger erinnert, als er sein erstes eigenes WG-Zimmer bezogen hatte. Typische Studentenbude. Gar nicht weit entfernt von der Eigentumswohnung am Kanal, mit undichtem Kachelofen, ochsenblutfarbenen Dielen und dem Toilettenkabuff auf halber Treppe. Anfang zwanzig, und das erste Mal fort aus dem beschaulichen Nikolassee, das erste Mal der elterlichen Obhut entschlüpft. Um zu studieren, Literatur und Kunstgeschichte. Das erste Mal im Leben fort von dem massiven Haus mit den großen Zimmern und dem weitläufigen Garten. Von wo aus Wälder und Seen zu Fuß zu erreichen gewesen waren. Der Tennisplatz um die Ecke, die Minigolfanlage, zig Musiklehrer aller Instrumente in Rufweite, immer bereit, immer zu Diensten, weil stets knapp bei Kasse: ein beschauliches und komfortables Landleben in der Stadt.
    Und keine fünfzehn Kilometer entfernt, mit S-und U-Bahn in einer halben Stunde zu erreichen, dann diese vollkommen andere Welt. Die van Harm bis dahin, abgesehen von gelegentlichen Exkursionen mit der Schule, ganz selten nur auf eigene Faust, nicht besser gekannt hatte als zum Beispiel Ostberlin. Auch den Alexanderplatz hatten sie zu Mauerzeiten mit der Jahrgangsstufe besucht. Beides Welten, von denen er hauptsächlich aus der Zeitung wusste, aus dem Blatt, für das er später selber einmal schreiben sollte und das seine Eltern, solange er denken konnte, abonniert hatten. Oder aus der Abendschau des dritten Programms. All die Geschichten über Punks und Psychobillys, die sich in den Achtzigern am Ku’damm blutige Massenschlägereien geliefert hatten, die jährlichen Maikrawalle in Kreuzberg, die Hausbesetzungen und die Häuserräumungen, die Schützenpanzerwagen und die brennenden Barrikaden aus Müllcontainern und Baustellenzubehör, die abgefackelten Autos und die entglasten Sparkassen, all die Straßenschlachten zwischen linksradikalen Autonomen und der Polizei, die Stunden währenden Prügeleien zwischen den Diskofuzzis und Poppern des Big Eden auf der einen und den unbehausten Rockern aus dem Märkischen Viertel und den gymnasialen Grunewald-Punkern auf

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