Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Constanze denken, verscheuchte deren Bild aber rasch wieder aus seinem Kopf und überlegte stattdessen, ob sich schwarz gefärbte Haare noch einmal blond überfärben ließen, ohne dass die Haare brachen, aber noch ehe er das Für und Wider einer solchen Maßnahme abwägen konnte, setzte Frau Wurst ihre Ansprache fort: » Das dort also ist die feine Brut, die unter uns heranwächst. Die wir an unserem Busen nähren. Der Nachwuchs vom Bürgermeister und vom größten Arbeitgeber in unserem Dorf. Und da tun wir uns noch wundern, dass hier die Kirchen brennen und die Ruhe unserer Toten gestört wird? Pfui Deibel!«
»Jetz mach aba mal nen Punkt, Else!« Das kam von Bruno, der neben Kai aufgesprungen war, und mit seinem Zwischenruf vermutlich verhindern wollte, dass Frau Wurst sich vollends um Kopf und Kragen redete.
»Ich bin sowieso fertig«, sagte Frau Wurst und verließ gleich darauf die Bühne.
Jugend forscht. Nicht
Nicht nur die Frauen Altwassmuths waren der informellen Dorfversammlung im Deutschen Haus ferngeblieben, die doch letztendlich nichts anderes gewesen war als die Geburtsstunde von Winfried Jagodas Bürgerwehr, sondern auch der Pfarrer, Herr Pagel, hatte es vorgezogen, die Veranstaltung zu meiden. Und das nicht etwa aus Gleichgültigkeit oder weil ihn die Trauer um seine Frau niederdrückte, sondern weil er außer ein höchst religiöser Mensch auch noch ein Demokrat aus tiefstem Herzen war. Jemand, für den eine Bürgerwehr nicht etwa ein Ausdruck der Demokratie war, sondern das genaue Gegenteil. Jemand, der an die Gewaltenteilung glaubte. An Polizei und Justiz und nicht an Anarchie und an das Walten von Lynchmobs.
Das alles erfuhr Kai van Harm von Pfarrer Pagel höchstpersönlich, als er am nächsten Tag an der Haltestelle auf den Morgenbus in die Kreisstadt wartete. Kai wollte etwas Bargeld holen, ein wenig durch die Fußgängerzone bummeln, in ein Restaurant einkehren, kurzum: Stadtluft schnuppern. Was angesichts der Größe dieses Kreiskäsekaffs schon komisch klang. Sich von den Störchen erholen natürlich, von ihrem Anblick und ihrem Geklapper, und auch für ein paar Stunden die mistige Landluft aus dem Kopf kriegen. Eine überregionale Tageszeitung kaufen vielleicht und deren Feuilleton bis zum letzten Wort auslesen. Überhaupt: ein wenig allein sein, ohne die Kinder und ohne Bruno Zabel, der ihm manchmal schon wie ein Schatten vorkam.
Doch kaum hatte van Harm sein Fahrrad an der Haltestelle abgeschlossen und sich auf die Wartebank gesetzt, war der Pfarrer um die Ecke gebogen und hatte sich vorgestellt. Gerade so, als habe er auf ihn gewartet.
Pagel sagte, dass er trotz des Schicksalsschlags nicht gedenke, seine Aufgabe als Hirte zu vernachlässigen. Dass auch seine so tragisch verunglückte Frau dies mit Sicherheit so gewollt hätte. Dass er bemerkt habe, dass Kai nun schon für eine längere Zeit im Ort wohne. Dass er einige von Kais Rezensionen und Artikeln gelesen habe, seit einiger Zeit aber nichts mehr von ihm habe finden können. Dass er ihn recht herzlich zum Gottesdienst einlade. Dass er, wie Kai vielleicht aufgefallen sei, gestern nicht auf der Versammlung gewesen war, wofür er aber sehr gute Gründe habe. Was wiederum eine Art Stichwort war, um van Harm anschließend minutenlang mit mittelmäßigen Ansichten über Moral und Demokratie zu langweilen. So palaverte jeder Landtagsabgeordnete, hielt man ihm nur lange genug ein Mikrofon unter die Nase. Oder vergaß man, es ihm rechtzeitig wieder zu entziehen. Erst die Ankunft des Busses konnte den Sermon des Popen unterbrechen. Das Zischen der hydraulischen Türen klang wie ein Seufzer der Erleichterung: Pfffhhh!
»Tragisch verunglückt, hatta jesagt?«
»Äh ja, ich glaube schon.«
»Und wissen Se, wer ooch nich uff der Versammlung war?«, fragte Bruno, als sie nach einem improvisierten Abendbrot im Hof saßen und ein erstes Bierchen zischten.
»Allerdings«, sagte van Harm. Er hatte, als er am Nachmittag von seiner kleinen Stadtreise zurückgekommen war, Bruno Zabel auf seiner Türschwelle sitzend vorgefunden. Bruno hatte in der Märkischen-Oder-Zeitung gelesen, und er hatte nicht nur sich selbst mitgebracht, sondern auch eine Kühltasche voller Bier und Lebensmittel, die er gern Fressalien nannte. Komischerweise hatte Kai sich durchaus über Brunos unangekündigten Besuch gefreut. Und er hatte sich auch gefreut, in der warmen Nachmittagssonne den Feldweg von der Altwassmuther Bushaltestelle nach Zirnsheim zurückzuradeln.
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