Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Grabsteins eingeblendet) deute darauf hin, dass die Ereignisse, die das bis dahin idyllische Storchendorf Altwassmuth erschüttert hätten, alles andere als einem bösen Zufall geschuldet seien.
Der Moderator ließ die Stimme sinken, man hörte einen dünnen Applaus, und gleichzeitig fuhr die Kamera in die Totale zurück. Man konnte jetzt sehen, dass um das kleine Zeltdach herum vielleicht hundert Zuschauer standen. Am Bildrand erkannte van Harm die Schnauze des Wurst-Mobils.
»Darüber, wie sich die Dorfbewohner fühlen, wollen wir heute reden«, sagte der Moderator und guckte betrübt aus der Wäsche.
»Aber auch darüber, wie sich die Altwassmuther wehren, wie sie in schweren Zeiten zusammenhalten, wie das Wort Solidarität eine neue Renaissance erfährt«, ergänzte die Moderatorin und ließ durch ihre offensichtliche Zerknirschtheit hindurch einen Funken Optimismus aufscheinen.
»Denn eines wollen die Bewohner dieser schönen Oderregion nicht«, verkündete der Moderator, und trotziger Kampfeswillen lag in seinem Ton, »den Ruf eines Storchenparadieses zu verlieren, um stattdessen als eine Gemeinde dazustehen, in der gebrandschatzt und verwüstet wird, in der Intoleranz und Gewalt herrschen.«
Jetzt war der Applaus schon deutlich stärker. Die Kamera fuhr wieder näher an das Zeltdach heran, und Kai sah, wie sich plötzlich Frau Wurst von hinten zwischen die beiden Moderatoren schob und mit festem Blick in die Kamera sah.
»Unsere erste Gesprächspartnerin an diesem Abend ist Else Wurst, der eine ganz besondere Funktion in der strukturschwachen Region zukommt …«, begann die Moderatorin Frau Wurst vorzustellen.
Während sie Frau Wursts Verdienste bei der Versorgung des immobilen Teils der Landbevölkerung erklärte, schnitt die Regie immer mal wieder auf eine Großaufnahme des Wurst-Mobils samt seines genialischen Werbe-Claims.
»Wie schätzen Sie ganz persönlich die Lage in den drei Altwassmuther Ortsteilen ein?«, fragte der Moderator, nachdem seine Kollegin mit der Vorstellung fertig war.
»Also …«, begann Frau Wurst, und es war wieder mal eines dieser Also , welche Kai zum Schaudern brachten. Er musste sich tatsächlich schütteln, als könne er auf diese Art die Gänsehaut wieder loswerden, die ihn wie aus dem Nichts überkommen hatte.
»Sind Sie noch dran?«, fragte Bruno am anderen Ende der Leitung.
»Ja. Gucken Sie eigentlich aus dem Fenster oder auf den Bildschirm?«
»Mal so, mal so.«
War Frau Wurst schon im Deutschen Haus nicht als Kind von Schüchtern-oder gar Verzagtheit aufgefallen, zog sie im Licht der Fernsehscheinwerfer so richtig vom Leder. Sie sah auch nicht die Moderatoren an, wenn sie redete, sondern blickte frontal in die Kamera hinein, starr und ohne zu blinzeln. So als wolle sie sagen: Ich weiß genau, wer du bist, der du dort hinter der Mattscheibe sitzt. Und wenn es sein muss, kriege ich dich!
Inhaltlich erfuhr Kai nichts Neues. Was Frau Wurst berichtete, war eine Mischung aus dem, was sie ihm neulich am Biertisch erzählt hatte und in ihrer Gaststättenansprache. Sie vermied es allerdings, Namen oder Funktionen zu nennen, erwähnte weder Wolf Kretzschmer noch den Bürgermeister oder den Schweinehirten Jagoda. Umso mehr aber beharrte sie darauf, dass die grenzenlose Verrohtheit der heimischen Jugend schuld an der aktuellen Misere des Ortes sei. »Kinder aus unserer Mitte!«, wie sie mehrere Male barmte, ohne allerdings ihre Mimik zu lockern.
»Die Jugend«, klagte Frau Wurst, »hat doch überhaupt keine Werte mehr. Und wer keine Werte hat, der hat auch keine Achtung. Und wer schon mit seinem Äußeren der Welt seine Verachtung dartut, wie soll es bei so jemandem denn innerlich aussehen. Da gibt’s doch nichts, außer verbrannter Erde.«
»Ob dem wirklich so ist«, sagte die Moderatorin und legte Frau Wurst beschwichtigend die Hand auf den Unterarm, »erfahren wir in wenigen Augenblicken von unseren nächsten Gästen, zwei von diesen angeblich gefühlskalten, rohen Jugendlichen. Doch zunächst sehen wir in einem kleinen Film, wie es hier früher zuging, als Altwassmuth noch eine Idylle war, die mehrere Tausend Besucher jedes Jahr anlockte.«
Doch der angekündigte Beitrag startete nicht sofort. Stattdessen schwenkte die Kamera nach rechts, wo zwei Tonleute gerade dabei waren, die nächsten Interviewgäste zu verkabeln. Und tatsächlich sahen sie nicht ganz geheuer aus, wie frisch aus einem Grab gestiegen, blass und verroht und gleichgültig bis in die
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