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Wer im Trueben fischt

Wer im Trueben fischt

Titel: Wer im Trueben fischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Lanfermann
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verschwunden.
    Emma dachte an die Arnicacreme, Helenes Allheilmittel. Sie ging in die 24-Stunden-Apotheke am Platz und kaufte eine Tube. Draußen warf sie die Pappschachtel in den Müll und öffnete die Tube mit der Rückseite des Deckels. Etwas weiße Creme floss heraus, Emma schloss die Augen und roch daran. So stand sie einen Moment zwischen all den Leuten, die um sie herum mit großen Einkaufstüten rannten und stießen.
    Sie verschloss die Creme, holte tief Luft und ging über die Straße zu ihrem Haus. Unter den Briefkästen im Flur hatte sie ihr Fahrrad angeschlossen. Das verbogene Hinterrad stach in die Luft wie ein gebrochenes Schlüsselbein. Emma ging schnell weiter und stieg in den Fahrstuhl. Auf dem Weg nach oben lehnte sie sich an die Wand. Sie tastete mit geschlossenen Augen nach ihren Wohnungsschlüsseln und fuhr mit den Fingern über den gezackten Rand. Als der Fahrstuhl im zwölften Stock rumpelnd zum Stehen kam, war sie benommen. Deshalb dachte sie auch im ersten Augenblick, sie täusche sich. Aber dann war sie mit einem Mal hellwach. Ihre Tür stand auf.
    Ihr Kopf dröhnte, das Blut schoss zu schnell durch ihren gerade noch trägen Körper. Das Gespräch mit Sebastian fiel ihr ein, der Anrufer, der sich nach ihrer Adresse erkundigt hatte. Sie wusste, dass sie besser zurückgehen und die Polizei rufen sollte, aber ihre Beine trugen sie ungefragt weiter. Sie legte die Hand auf die Tür. Ganz sacht schob sie sie auf. Sie hörte nichts. Sie ging in ihren Vorraum, stieg über Schuhe und einen heruntergefallenen Regenmantel. Es war ganz ruhig, nur ihr eigener Atem keuchte. Sie warf einen Blick um die Ecke in das Wohnzimmer.
    Das Hello-Kitty-Kleid war ihr bis über die Taille hochgerutscht und entblößte eine blau-rot geringelte Unterhose. Sie lag mit dem Gesicht nach unten an der Durchreiche zur Küchenzeile. Emma schrie, stürzte sich nach vorn und fasste das Kind an den Schultern. Sie war weich und schwer. Emma drehte sie um und versuchte gleichzeitig, nach der Ader am Hals zu tasten, aber sie war zu hektisch, um einen Herzschlag zu fühlen. Penelope hatte die Augen geschlossen. Aus dem Mund führte eine getrocknete Spur aus Erbrochenem. Emma riss sich mit der linken Hand die Tasche von der Schulter und griff nach ihrem Handy. Sie wählte den Notruf und schrie ihre Adresse hinein. Dann beugte sie sich wieder über das Kind und versuchte sich verzweifelt an die Handgriffe zu erinnern, die ihr vor viel zu langer Zeit in einem Erste-Hilfe-Kurs beigebracht worden waren. Als der Notarzt hereingerannt kam und sie beiseitestieß, konnte sie nicht anders, als einen Schrei von sich zu geben. Sie war so erleichtert, nicht mehr allein zu sein, dass sie laut zu weinen anfing. Die Tränen und der Rotz liefen ihr über das Gesicht. Sie traute sich kaum, dem Nothilfeteam bei ihren routinierten Bewegungen zuzuschauen. Als Penelope auf der Bahre festgeschnallt worden war, stolperte sie hinterher. Ein Krankenpfleger hob die Schlüssel vom Boden auf, schloss die Tür hinter sich und steckte sie Emma in die Jackentasche. Sie starrte auf das Kind unter der Atemmaske. Jeder im Team nahm an, dass sie die Mutter war. Aber sie sagte, nein, sie wohnt nebenan. Ein Assistent klebte eine Nachricht mit der Telefonnummer des Krankenhauses an Penelopes Wohnungstür.
    Edgar Blume streifte schlecht gelaunt durch seine Wohnung. Er ging zum Kühlschrank, steckte sich Käse und Aufschnitt in den Mund und trank die Milch aus der Tüte. Dabei schaute er aus dem Fenster auf eine Horde Jugendlicher, die am Geländer einer kleinen Kanalbrücke lehnten, tranken und laut lachten. Er dachte an Emma, wie sie in seinem Auto saß und auf den Kiesweg vor seinem Haus in Zehlendorf gestarrt hatte. Er hatte ganze Wochenenden damit zugebracht, den Kies zu harken. Er hatte die Sträucher beschnitten und den Rasen gemäht. Abends hatte er etwas, über das er reden konnte, aber Katrin interessierte sich nicht für Gartenarbeit. Als Johann geboren wurde, dachte er, jetzt wird alles gut. Der Junge krähte, und die Eltern lachten. Aber wenn Johann schlief, dann war die Stille umso stärker spürbar.
    Er öffnete die Fenster und schaute auf die Jugendlichen. Es waren auch ein paar Ältere darunter, ein Ehepaar mit einer Flasche Wein und Baguettebrot, eine Frau im langen Kleid, ein Mann mit grauen Schläfen und einem Baby vor sich im Tragetuch. Wenn Johann bei ihm war, gingen sie manchmal zusammen runter. Sie kauften ein Eis und setzten sich auf einen der

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