Wer ist eigentlich Paul?
Moby singt: «I fly so high and fall so low.» Sie fragt sich nicht, was sie ihrem Pantoffel tragenden So-gut-wie-Ehemann am Abend kochen soll, sondern erinnert sich mit einem Ziehen im Magen an die unanständigenWorte, die Paul ihr ins Ohr flüsterte, als er sie im Hausflur nahm, weil der Weg ins Schlafzimmer vor lauter Lust zu weit war. Sie denkt mit Gänsehaut daran, wie er aufstöhnt, wenn ihre Hand unter sein T-Shirt fährt und unter den Bund seiner Calvin Kleins gleitet. Und wie sich seine weichen Haare dabei anfühlen. Sie liebt Paul für diese Momente, aber sie liebt ihn noch wegen tausend anderer Kleinigkeiten, von denen es so viele erst zu entdecken gibt. Sie liebt ihn für die Art, wie er sie ansieht, wenn sie spricht. Dafür, dass er ihr manchmal nicht einfach Feuer gibt, sondern ihr eine Zigarette in seinem Mund anzündet und dann rüberreicht. Dafür, dass er sie «Süße» nennt, was sonst kein Mann darf. Dafür, dass seine Hände zittern, wenn er ihr die Tür aufmacht, und dass er dann behauptet, er zittere immer. Dafür, dass sie sich traut, ihm Gedichte zu schicken. Dafür, dass sie sich schön fühlt, wenn sie bei ihm ist. Dafür, dass er manchmal schwer zu durchschauen ist und ihr Rätsel aufgibt. Dafür, dass sie schon tausend Tode gestorben ist aus Angst, ihn nicht wiederzusehen.
Ich frage mich, wie es wohl weitergeht mit Paul und mir. Ob ich sein Geheimnis herausfinden werde – warum er mich nicht will. Und ob ich es überhaupt herausfinden will.
Mein Handy piept. Bevor ich es aus der Tasche gekramt habe, weiß ich, dass es Paul ist, der mir schreibt. Ich zähle Weihnachtsbaum Nummer 47, lese das Schild «München 98 km» und freue mich, dass ich noch nicht gleich zu Hause bin.
MITTWOCH, 11. DEZEMBER 2002 – DER SCHÖNE ANDI
Heute Morgen ging mein erster Blick zum Handy. Ich erhoffte eine Kurzmitteilung, die mir sagt, dass ich eine E-Mail bekommen habe, welche mir mitteilt, dass Paul meine E-Card mit dem Gedicht, die ich ihm letzte Woche schickte, abgeholt hat.Kompliziert? Ach was. Ich bin eben eine moderne Frau und total vernetzt. Habe es zwar immer noch nicht geschafft, mein WA P-Handy so zu konfigurieren, dass ich nachgucken kann, ob es gerade regnet oder schneit, aber ich bekomme immer mit, wenn mir jemand eine Mail schickt. Jedenfalls blieb das Handy-Display heute leer und meine schöne Karte ungelesen. Hmpf.
Im Radio erzählt der Alfons aus Unterbirnbach, dass er heute elf Grad unter null gemessen hat (wen interessiert’s?? Ich merke selber, dass ich friere!), als ich nackt und nass vom Duschen durch meine Wohnung tappe und das Mobiltelefon suche, das gepiept hat. Hurra, eine Nachricht. Lesen. Hm, weder von Paul noch von GMX. Wer zum Teufel schreibt mir da? «Hallo, schöne Frau, es war toll mit dir gestern Abend. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Du bist echt der Hammer. Ich denke an dich, Andi.» Andi??? Welcher Andi? Andi … Ich brauche einen Kaffee.
Zehn Minuten später sitze ich im Frotteebademantel am Küchentisch, und langsam kommt die Erinnerung zurück. Andi. Der «schöne Andi». Die Party. Die Caipi-Bar. Eigentlich bin ich ja nur wegen Vroni mitgegangen. Nachdem sie Marc-der-zum-Arschloch-wurde endlich in den Wind geschossen hat, sei sie offen für neue Begegnungen, sagte sie, und diese Party im Schickimicki-Laden Erste Liga sei die ideale Gelegenheit, um mal wieder unseren Marktwert zu testen.
Meiner ist erhöht dank meiner neuen schwarzen Corsage aus dem Kokaii-Lagerverkauf. Ich fühle mich sehr vamphaft, männermordend und verwegen. Trotzdem muss ich mir ein bisschen Mut antrinken. Vroni und ich tanzen gerade ausgelassen zu «Merry Christmas» von Shakin’ Stevens, ich vergesse meine Angst, dass mein Busen aus der Corsage hüpfen könnte,und es ist richtig lustig. Da steht er plötzlich vor mir. Groß, dunkelhaarig, wahnsinnig gut aussehend, duftend, grinsend. Der schöne Andi. «Hallo, Marie», sagt er mit seiner umwerfend männlichen Stimme, «ich hätte dich beinahe nicht erkannt!» Gott sei Dank, denke ich, als wir uns das letzte Mal sahen, war ich 19, trug einen langen Zopf mit Samthaargummi, zu kurze Jeans, eine Weste mit Paisley-Muster und dachte, Schminken hieße, möglichst viel dunklen Lippenstift aufzutragen. Wie war ich in ihn verliebt, in den schönen Andi, den jede wollte. Ich kaufte mir damals sogar eine Flasche mit seinem After Shave (das obligatorische Cool Water, glaube ich) und tröpfelte ein wenig davon auf mein
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