Wer Liebe verspricht
Joshuas Vorliebe für einen gehobenen und anspruchsvollen Lebensstil ließ sich auch hier nicht verleugnen. In den hohen kühlen Räumen herrschte eine geschäftige Atmosphäre, als würden hier in jeder Minute des Tages wichtige Entscheidungen getroffen, Geschäfte abgeschlossen und Reichtümer erworben, ohne die die Welt nicht überleben konnte. Olivia fand das faszinierend. Als sie in Arthur Ransomes Büro zu einem kurzen, höflichen Gespräch Platz nahm, beschloß sie, die Gunst der Stunde so gut wie möglich zu nutzen. »Onkel Josh hat mir von dem Überfall auf das Opium erzählt«, begann sie kühn. »Kommt Mr.Slocum mit seiner Untersuchung voran?«
Ransome wußte, daß sein Partner Olivia oft geschäftliche Dinge anvertraute, und sah deshalb keinen Grund zu einer ausweichenden Antwort. »Es geht so wie bei allen polizeilichen Untersuchungen in Fällen, an denen Einheimische beteiligt sind – das heißt, die Untersuchung dreht sich im Kreis.« Er lachte bitter.
»Gibt es keine Fortschritte?«
»Nicht die geringsten. Und daran wird sich auch nichts ändern. Wenn die Einheimischen sich gegen uns verbünden, dann greifen sie zu zwei sehr wirksamen Waffen – Gedächtnisschwund und viele, viele Zeugenaussagen, die sich alle widersprechen. Was kann der arme Slocum dagegen tun?«
»Und Gupta behauptet noch immer, es seien die Würger gewesen?« Insgeheim schämte sich Olivia, weil sie sich sehr erleichtert fühlte.
»Ja.«
» Sie glauben ihm offenbar auch nicht?«
Ransome griff sich an den Kopf. »Meine liebe Miss O’Rourke, wenn man so lange in diesem Land gelebt hat wie Josh und ich, entwickelt man in solchen Dingen einen unfehlbaren Instinkt. Nein, ich glaube ihm auch nicht.«
Ein weißgekleideter Diener mit einem roten Turban und einer Schärpe servierte den Tee mit der Feierlichkeit eines Priesters, der in einem Tempel eine heilige Handlung vollzieht. Er stellte das Tablett zwischen sie auf den Tisch, goß die honiggelbe Flüssigkeit in zwei Tassen, fügte mit einem silbernen Stäbchen je eine Zitronenscheibe hinzu und zog sich geräuschlos zurück. Die chinesischen Tassen mit einem goldenen Drachendekor waren aus hauchdünnem Porzellan. Olivia warf Ransome über den Rand der Tasse hinweg einen Blick zu und beschloß, noch weiter zu bohren. »Glauben Sie auch, daß Kala Kanta für den Raubüberfall verantwortlich ist?«
Ransome sah sie einen Augenblick lang leicht irritiert an und nickte.
»Wird Slocum ihm das nachweisen können?«
»Nein.« Diesmal zögerte er mit der Antwort nicht. »Raventhorne hat uns gegenüber einen großen Vorteil, durch den wir immer im Nachteil sind: Er hat Indien auf seiner Seite.«
Die ruhige und beinahe resignierte Feststellung überraschte Olivia. Ransome fand sich offenbar mit der Situation ab – ganz anders als ihr Onkel mit seiner aufbrausenden Art. »Raventhornes Untaten versetzen Sie nicht in Wut, Mr.Ransome? Immerhin drohen Ihnen doch hohe Verluste, wie ich höre.«
Ransome antwortete nicht sofort, sondern fischte mit dem Teelöffel umständlich ein einsames Teeblatt aus der Tasse und beförderte es ordentlich und geschickt auf die Untertasse. »Natürlich macht es mich wütend«, sagte er schließlich seelenruhig, »aber es ist vielleicht … zu verstehen.«
»Zu verstehen?« Dieses ungewöhnliche und faire Eingeständnis setzte Olivia in Erstaunen. »Wie das? Onkel Josh ist da ganz sicher anderer Ansicht.«
»Ja.« Er sah sie nachdenklich an. »Ja, Joshs Zorn ist natürlich gerechtfertigt. Raventhorne ist zweifellos der bösartigste, rachsüchtigste Schurke, dem ich je begegnet bin …« Er brach ab und sagte:
»Entschuldigen Sie bitte meine Ausdrücke, Miss O’Rourke, aber Raventhorne ist ein Mann, der heftige Gefühle weckt.«
»Oh, ich habe bei uns in Amerika sehr viel Schlimmeres gehört, Mr.Ransome, das kann ich Ihnen versichern!« Sie beugte sich vor. Jetzt nahm das Gespräch eine Wendung, die sie brennend interessierte.
»Weshalb glauben Sie, Raventhornes Verbrechen sei zu verstehen?«
Ransome leerte die Tasse und zündete sich einen seiner geliebten Stumpen an. »Raventhorne hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er den Opiumhandel verurteilt. Und offen gesagt, Miss O’Rourke«, er sog den Rauch tief in die Lunge und stieß ihn ganz langsam aus, »ich habe auch nicht mehr viel dafür übrig. Im sogenannten Opiumkrieg neununddreißig habe ich wie jeder Engländer treu für Königin und Vaterland gekämpft. Aber wissen Sie, ich habe
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