Wer Liebe verspricht
und über das erstaunliche Wissen der vergangenen Zeitalter, das zum vielschichtigen indischen Erbe gehörte. Wenn Arvind Singh etwas von der Flucht seines Freundes mit Estelle wußte, sprach er jedenfalls nicht darüber. Olivia machte sich keine Gedanken mehr. Das gehörte zur toten Vergangenheit, und wie alles Tote lohnte es nur, das alles zu begraben.
Olivia freute sich sehr über die Stunden, die sie mit Kinjals Sohn und ihrer Tochter verbrachte. Der zwölfjährige Tarun war ein stiller Junge mit ernsten Augen. Seine Erziehung als Thronerbe stand im Mittelpunkt des Lebens seiner Eltern. Die kleine Tara war neun. Das fröhliche und aufgeschlossene Kind war im Gegensatz zu seinem Bruder alles andere als ernst, obwohl das Mädchen eine ebenso umfassende und anstrengende Erziehung erhielt wie Tarun. Alles in allem herrschte in Kinjals Familie eine Normalität und selbstverständliche Ordnung, die Olivias Tage verzauberten. Zum ersten Mal, seit sie in Indien war, konnte sie wieder unbeschwert lachen. Nichts hinderte sie daran, sich frei in der Umgebung zu bewegen und das ländliche Indien kennenzulernen, von dem sie nur so wenig wußte. Sie machte ausgedehnte Spaziergänge und beobachtete Bauern, Fischer und Weber bei ihrer Arbeit. Und wieder einmal staunte sie über die Harmonie einer Welt, die sich selbst treu war. Das Leben glich hier einem Meer – die Wellen hoben und senkten sich, aber keine störte die Einheit des größeren Ganzen, zu dem alle gehörten.
Wenn ich doch nur so frei und unbeschwert leben könnte!
Selbst in Amerika hatte sie diese Art Zufriedenheit selten erlebt. Das Morgen existierte nur, wenn es zum Heute wurde. Und zumindest im Augenblick gab es keine harten Realitäten. Olivia wünschte sich, das Leben würde so für immer weitergehen, aber das konnte natürlich nicht sein.
*
Olivias Kind wurde um Mitternacht geboren.
Draußen tobten die Elemente. Der Monsunsturm peitschte die Bäume und bog sie wie Grashalme. Drinnen wütete ein anderer Sturm, während die stechenden Schmerzen das Ende von Olivias kurzer Zeit in einem Paradies ankündigten, das ihr nur geschenkt worden war, um es ihr in der bevorstehenden Erschaffung eines neuen Lebens wieder zu nehmen. Die schmerzhaften, in der Heftigkeit unerträglichen Wellen kamen regelmäßig und in immer kürzeren Abständen. Sie zerrütteten ihren Geist und marterten ihren Körper. Etwas Lebendes quälte in wilder Wut ihren Körper, riß und zerrte und schien entschlossen, auch nicht eine Faser ihres Wesens ganz zu lassen. Olivia schrie immer wieder laut, und dann drang Kinjals beruhigende Stimme durch den tobenden Strudel ihrer Schmerzen zu ihr.
»Still, still … es dauert nicht mehr lange. Tief atmen, drücken, noch fester drücken …«
Die dröhnenden Hammerschläge hörten nicht auf. Olivia tauchte in blutroten Wolken unter und nach Luft ringend wieder auf. Sie drückte fester und fester, keuchte vor Schmerzen und schluchzte. Kühle Hände wuschen ihr den Schweiß vom Gesicht, geübte Finger drückten, hoben und zogen. Um sie herum hörte sie Geräusche, die zu einer Symphonie von Geflüster, Wasser, eiligen Schritten und hastigen Anweisungen verschmolzen.
»Noch einmal, liebste Olivia … drücken, so fest wie möglich drücken. Es ist ja beinahe geschafft, beinahe …«
Noch einmal preßte Olivia, und noch einmal schrie sie auf. Ein scharfes Messer teilte sie der Länge nach in zwei Hälften, als etwas unerbittlich und rücksichtslos aus ihrem Körper schoß. Sie hatte keine Kraft mehr zum Atmen. Völlig zerschlagen verlor sie mit einem stummen Schrei das Bewußtsein. Ihre Kraft war erschöpft. Nach einer zwanzigstündigen Folter durfte sie endlich schlafen. Es war der Schlaf des traumlosen Todes. Ohne es zu wissen, hatte sie Jai Raventhornes Sohn geboren.
Olivia erwachte viele Stunden später im Sonnenschein, umgeben vom Duft von Jasmin, Sandelholz und milden Heiltränken, die zur Wiederherstellung ihres verwundeten Körpers dienen sollten. Wie durch einen Nebel hindurch sah sie undeutlich die Hebamme, eine in der Kräuterheilkunde bewanderte Frau, und Kammerfrauen, die so gelassen und ruhig ihrer Arbeit nachgingen, daß Olivia staunte. Aber sie hatten schon unzählige Male Geburt und Tod erlebt. Es gehörte zum Kreislauf des Lebens und war ihnen nicht neu. Geschickte Hände wechselten die blutigen Laken, salbten die klaffenden Wunden und entfernten die Überreste der langen Schlacht, die mit der wunderbaren Erschaffung neuen
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