Wer Liebe verspricht
seinen Mitgliedern bot. Olivia sah keinen Grund dafür, daß ein Bordell mit einem Euphemismus umschrieben werden mußte. Aber sie bezweifelte, daß ihr in Kalkutta jemand zugestimmt hätte.
Den Rest des Weges sprach niemand mehr.
Erst als sie später oben an der Treppe standen, ehe sie sich in ihre Zimmer zurückzogen, erinnerte sich Olivia plötzlich wieder an die rätselhaften Grüße, die sie ausrichten sollte. Lohnte es sich überhaupt, überlegte sie, das zu tun? Das beleidigende Verhalten des unmöglichen Mr.Raventhorne machte ihr immer noch zu schaffen, aber schließlich sagte sie sich mit einem Schulterzucken: Warum nicht? Die paar Worte sind in keiner Hinsicht von Bedeutung.
»Beinahe hätte ich vergessen, es dir zu sagen, Onkel Josh«, begann sie beiläufig. »Ich war heute abend kurz am Uferdamm und habe dort jemanden getroffen, der dich kennt.«
»Ach?«
»Er hat mich gebeten, dir und Tante Bridget Grüße auszurichten. Er sagte, er heißt Jai Raventhorne.«
Während Olivia die letzten beiden Worte aussprach, geschah etwas Merkwürdiges. Alle erstarrten zu einer Art groteskem Tableau. Lady Bridgets Hand blieb auf halbem Weg zur Wandlampe, die sie löschen wollte, in der Luft. Sir Joshuas rechtes Bein, mit dem er gerade durch die offene Tür des ehelichen Schlafzimmers treten wollte, bewegte sich nicht weiter, und sein Kopf wurde puterrot. Estelles Mund stand plötzlich weit offen, und ihre untertassengroßen Augen starrten ihre Cousine fassungslos an. Olivia begriff nicht, was das alles zu bedeuten hatte, und die Worte blieben ihr buchstäblich in der Kehle stecken.
Das spannungsgeladene Schweigen hielt lange an. Lady Bridget bewegte sich zuerst. Sie seufzte plötzlich und ließ den Arm sinken. Dann sank sie ohnmächtig zu Boden.
Zweites Kapitel
»Aber was habe ich denn gesagt, Estelle? Du meine Güte, was habe ich denn Falsches gesagt …?«
Olivia und ihre Cousine waren endlich allein in Estelles Zimmer. Man hatte Lady Bridget in ihr Bett getragen, mit Ammoniak wieder zu sich gebracht und ihr schließlich den üblichen Schlaftrunk eingeflößt. Dabei hatten sie nur das Allernötigste geredet. Selbst der stumme und streng blickende Sir Joshua hatte Olivia keine Erklärung gegeben, ihr nicht einmal Vorwürfe gemacht. Das ominöse bleierne Schweigen fand Olivia unerträglich.
Estelle verschloß die Tür. »Du hättest diesen Namen nicht erwähnen sollen«, flüsterte sie streng und mit blassem Gesicht. »Das ist in diesem Haus nicht erlaubt. Natürlich konntest du das nicht wissen.«
»Aber weshalb?« Olivias Verwirrung wich nicht. »Was hat er denn getan, dieser … dieser Raventhorne …?« Unbewußt folgte sie Estelles Beispiel und senkte die Stimme.
» Ich weiß es nicht. Mir sagt ja niemand etwas.« Mit einem tiefen Seufzer griff Estelle unter das Bett und zog eine Gebäckdose hervor.
»Ich weiß nur, daß alle ihn hassen.«
»Es muß doch einen Grund dafür geben«, sagte Olivia kopfschüttelnd. »Was hat er denn getan, um sich so verhaßt zu machen? Hat es etwas mit geschäftlichen Dingen zu tun?«
»Vermutlich.« Estelle kaute ein Ingwerplätzchen. »Man sagt, er ist gewissenlos, skrupellos und ein Erpresser ohne jede Moral. Außerdem haßt er uns ebenfalls.«
»Uns?«
»Die Engländer. Man sagt, er setzt alles daran, uns aus Indien zu vertreiben.« Sie lachte verächtlich. »Wie du siehst, ist er auch noch verrückt.«
Olivia dachte mit gerunzelter Stirn darüber nach. »Dann ist er kein … Engländer?«
»Großer Gott, nein!« Estelle sah sie entsetzt an. »Er ist Eurasier. Wenn er Engländer wäre, hätte er sehr viel mehr Vernunft.« Sie nahm sich ein zweites Plätzchen und fragte mit einem verstohlenen Blick zur Tür noch leiser: »Worüber hast du mit ihm gesprochen? Über etwas … Interessantes?«
Olivia mochte ihre Cousine inzwischen zwar sehr, aber sie war nicht so dumm, die Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. Mit ihrem natürlichen Hang zum Klatsch behielt Estelle nichts länger als fünf Minuten für sich. »Ach, über dieses und jenes, jedenfalls nichts Besonderes. Erzähl mir etwas über ihn. Ich meine, was macht er geschäftlich?«
Estelle zuckte die Schultern. »Niemand weiß viel über seine Vergangenheit. Nicht einmal Mrs.Drummond – und ihr entgeht sehr wenig!« Estelle sah Olivia nachdenklich an. »Er ist im Teegeschäft wie Papa. Und er hat eigene Schiffe, die besser sind als die Teepötte, die alle anderen haben. Das ist ein Grund, ihn zu
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