Wer Liebe verspricht
sprach er allerdings nicht, nicht einmal andeutungsweise. Olivia, er sprach nie über dich. Aber wenn ich von dir redete, und das tat ich ständig, hörte Jai aufmerksam und wie in Trance zu. Und er hing mit unbewegten und starren Augen an meinen Lippen. Im nachhinein weiß ich, daß er sich jedes Wort über dich einprägte, jede Silbe sammelte wie ein Eichhörnchen Nüsse für den Winter.«
Olivia wollte Estelle zum Schweigen bringen und öffnete empört den Mund, aber Estelle ließ sich nicht unterbrechen und brachte sie mit einer energischen Geste zum Schweigen. »Ich muß dir das sagen, bevor ich gehe, Olivia!« Aus Angst, am Sprechen gehindert zu werden, nahmen ihre übersprudelnden Worte noch an Heftigkeit zu. »Aber erst, als ich wieder hier war und Amos sah, begriff ich den Grund für die plötzliche Verwandlung und seine innere Qual. In dem afrikanischen Hafen lagen andere Schiffe aus Kalkutta. Die Kapitäne kannten Jai, und er traf sich mit ihnen. Damals muß er von deiner Hochzeit mit Freddie Birkhurst erfahren haben. Es gibt keinen anderen Grund für seinen völligen Zusammenbruch.« Estelle schwieg und ließ ihre Worte wirken. Dann sprach sie eher beiläufig weiter, zufrieden darüber, daß nun ausgesprochen war, was sie sich vorgenommen hatte. »Wir fuhren weiter nach England. Trotz seiner Verbitterung gab sich Jai größte Mühe, Johns Vertrauen zu gewinnen. Schließlich gelang es ihm. Jai traf alle Vorbereitungen zur Hochzeit, er bezahlte alles und kaufte mir eine üppige Aussteuer, beschenkte uns großzügig und war als ›Freund der Familie‹ mein Trauzeuge. Johns Eltern erfuhren nicht die ganze Geschichte. Es sind einfache Leute, und sie hätten die Wahrheit weder verstanden noch gebilligt. Aber mit seinen Überredungskünsten, seinem unbeschreiblichen Charme und seiner Großzügigkeit nahm er sie für sich ein. Sie stellten keine Fragen.« In Estelles Augen glänzten Tränen. »Jai wollte einmal mein Leben zerstören, aber er hat es mir auch wieder geschenkt, Olivia. Er kann etwas wiedergutmachen. Er hat ein Gewissen. Als Mama und Papa mich verstießen, geriet er wieder außer sich vor Zorn. Er war niedergeschlagen, denn er wußte, daß ich es ihm zu verdanken hatte. Er wird ihnen das und alles andere nie verzeihen, aber Jai weiß, daß zumindest ich auf seiner Seite stehe. Wenn du eines Tages nicht mehr da sein wirst, Olivia, dann habe ich nur noch Jai als Verwandten.« Nachdem sie so viel gesagt hatte, mußte sie noch die entscheidende Frage stellen. »Wenn ich Jai verzeihen kann, Olivia, kannst du dich dann nicht dazu entschließen, ihm auch zu …?«
Estelles kühne Frage – die Frage, die von Anfang an über ihrem Besuch stand, wurde vom Wind davongetragen. Estelle wartete ängstlich und zitternd auf eine Antwort. Und als Olivia »Nein« sagte, hatte sie traurig nichts anderes erwartet. Der Mißerfolg bedrückte sie, und Estelle schwieg. In ihrer Enttäuschung verstand sie, daß sich vieles von dem, was zwischen Jai und ihrer Cousine vorgefallen war, ihr entzog. Daran würde sich vermutlich nie etwas ändern. Es ging sie nichts an, das mußte sie sich eingestehen. Olivia gähnte wieder – diesmal wirklich aus Müdigkeit. »Wenn du alles gesagt hast, dann sollten wir zurückgehen, damit wir beide morgen ausgeschlafen sind. Du hast eine lange Reise vor dir.«
»Ich muß noch etwas sagen. Es ist ebenfalls ein kleines Beispiel für …«
»Nein, Estelle! Vielleicht morgen früh …« Olivias gespielte Geduld war erschöpft. Sie konnte nicht noch mehr ertragen – heute nicht!
»Jetzt, Olivia! Morgen ist keine Zeit mehr dazu.« Estelle ließ sich nicht abschütteln und legte ihrer unnachgiebigen Cousine die Hand auf den Arm, um sie am Gehen zu hindern. »Während ich in der Kabine eingeschlossen war, fand ich etwas. Du weißt ja, Jai hat kein Interesse an persönlichen Dingen. Wie im Haus in Chitpur gab es in der Kabine nur das Nötigste. Aber in einer Schublade entdeckte ich unter alten Seekarten ein Bündel aus rotem Samt, in dem er offenbar etwas Wichtiges aufbewahrte. Jai hatte mich gedemütigt, und ich war wütend. Ich schnürte das Bündel ohne Gewissensbisse auf.« Estelle redete schnell und hastig, denn sie hatte nur noch diese eine Möglichkeit, es Olivia zu erzählen. »Es lagen höchst merkwürdige Dinge darin – das heißt, für mich waren sie damals merkwürdig –, silberne Armringe, Nasen- und Zehenringe, wie die Inderinnen sie tragen, ein Paar Sandalen, einige
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