Wer Liebe verspricht
Bengalen auf der unbefestigten Straße mit den tiefen ausgefahrenen Furchen war heiß und ermüdend. Aber Olivia merkte wenig davon. Sie verließ zum ersten Mal die Stadt, und sie war wie verzaubert. Die majestätische Hauptstadt Kalkutta war eine Schöpfung der Briten und deshalb in vielen Dingen europäisch – die Architektur, das politische und kommerzielle Leben, die gesellschaftliche Atmosphäre, die Denkgewohnheiten in den Handelsunternehmungen und der beherrschende Einfluß der allgegenwärtigen Ostindischen Kompanie. Olivia bewegte sich zwangsläufig innerhalb dieser engen Grenzen und hatte bisher kaum etwas von dem wahren Charakter und den Farben des Landes gesehen. Deshalb fesselten sie selbst die flüchtigen Eindrücke von der bengalischen Landschaft durch das Fenster der fahrenden Kutsche.
Das Panorama, das an ihr vorüberzog, wurde hauptsächlich von leuchtendgrünen, vom Regen saubergewaschenen Reisfeldern bestimmt. In Bambushainen standen hin und wieder Lehmhütten mit Palmblattdächern, umgeben von Bananenstauden und Teichen, in denen üppig die Wasserlilien wuchsen. Bauern mit geflochtenen Hüten standen knöcheltief im Wasser und pflanzten die Reisschößlinge in ordentliche, gerade Reihen. In den Teichen fingen Fischer in Körben Süßwasserkrebse. Frauen und Kinder arbeiteten zusammen mit den Männern. An einem Bach spielten ein paar Jungen Ball mit einer Kokosnuß. Die drei Kutschen der Templewoods mit den bewaffneten Vorreitern boten ein eindrucksvolles Bild, doch die Landbewohner interessierten sich wenig dafür. Sie nahmen sie mit großen Augen flüchtig zur Kenntnis und arbeiteten gelassen weiter.
Olivias Ziel, der ummauerte Palast in Kirtinagar, unterschied sich sehr von der bäuerlichen Einfachheit seiner ländlichen Umgebung. Am Tor des fürstlichen Besitzes erwartete sie ein farbenprächtiger Trupp berittener Wachen, die den Kutschen mit großem Zeremoniell das Geleit gaben. Der Park, in dem die Paläste standen – offenbar gab es mehr als einen –, war sehr gepflegt. Olivia bestaunte die üppigen Blumenbeete, Mangohaine und die schattigen Wäldchen mit Banyan-, Bo- und Gulmoharbäumen – die mit ihren leuchtend orangenen Blüten wie mit züngelnden Flammen übersät waren. Die Kutschen fuhren auf einer eleganten Auffahrt zu einem Portikus. Dort auf den Marmorstufen erwartete sie der Maharadscha inmitten zahlloser Palastbeamten und Diener.
»Willkommen in Kirtinagar, Miss O’Rourke!« Er faltete die Hände zum Gruß und trat vor, um Olivia persönlich beim Aussteigen zu helfen. »Ich bin entzückt, daß die kurzfristige Nachricht wenigstens Sie nicht abgehalten hat, unsere bescheidene Einladung anzunehmen.«
Der ehrfurchteinflößend formelle Empfang machte Olivia nervös, und sie hielt sich bei ihren Antworten strikt an die Anweisungen, die Onkel Josh ihr gegeben hatte. Der Maharadscha bot jedoch in Benehmen und Kleidung das Bild absoluter Ungezwungenheit. Er trug den traditionellen weißen Baumwol ldhoti , ein weites Seidenhemd und einen seidenen Schal. In seiner eigenen Umgebung und in Alltagskleidung wirkte er ganz anders, als Olivia ihn in Erinnerung hatte. Der Kopf war unbedeckt, und außer einem Diamantring trug er keinen Schmuck. Ohne Turban wirkte der Maharadscha jünger – wie ein Mann Ende dreißig. In seinen dichten dunklen Haaren zeigte sich noch kein Grau. Zu den Begrüßungsformalitäten gehörte, daß Olivia Sir Joshua und Lady Bridget entschuldigte, die zutiefst bedauerten, daß sie die freundliche Einladung der fürstlichen Hoheiten nicht annehmen konnten. Sir Joshua brachte dieses Bedauern in einem Brief noch einmal selbst zum Ausdruck. Außerdem ließ sie Ihren Hoheiten eine Mahagonitruhe mit Geschenken übergeben.
»Kommen Sie, Miss O’Rourke«, sagte der Maharadscha, als diese Förmlichkeiten vorüber waren. »Ich muß Sie zur Maharani begleiten. Sie wartet ungeduldig darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen. Meine Gemahlin freut sich, englischsprechende Damen zu treffen, damit sie ihr Englisch üben kann. Aber ich möchte gleich hinzufügen, das ist nicht der einzige Grund für ihre Ungeduld.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Bengalen ein Mangel an englischsprechenden Damen herrscht«, erwiderte Olivia, während sie nebeneinander über eine gepflegte Rasenfläche mit Blumenrabatten gingen, und das Gefolge ihnen in diskretem Abstand folgte. »Es leben doch viele Beamte der britischen Zivilverwaltung hier im Distrikt.«
»Das ist wahr, aber«,
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