Wer Liebe verspricht
ja – aber dann sind Sie eine Weile von Ihrem schmachtenden Romeo getrennt!« Er sah sie mißbilligend an.
Diesmal stampfte sie mit dem Fuß auf. »Was soll dieser ›Name‹ aus Ihrem Mund!« rief sie und ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Es macht mich rasend – und natürlich tun Sie es nur aus diesem Grund!«
Er lachte. »Wissen Sie einen besseren?« Ein unsichtbarer Zauberstab ließ das Lächeln verschwinden. Die blassen Augen blickten sie so metallisch an, wie seine Stimme klang. »Wenn Sie nicht nach Barrackpore fahren wollen, werden Sie nicht fahren. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.« Er drehte sich um und ging zu seinem Pferd. Olivia starrte verblüfft auf seinen Rücken.
*
Erst spät am Abend legte sich die Aufregung rund um den Pavillon. Inzwischen war auch die fürstliche Jagdgesellschaft nach Kirtinagar und in den Palast zurückgekehrt. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, und Olivia fühlte sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zerschlagen. Aber ihr Verstand arbeitete trotz körperlicher und seelischer Erschöpfung auf Hochtouren. Ungeachtet aller Widersprüche und Verwirrung ließ sich eine Wahrheit nicht leugnen: Ihr Interesse an Jai Raventhorne war keineswegs ›theoretisch‹! Das zumindest hatte dieser Tag ans Licht gebracht. Ihre Neugier ließ sich auch nicht nur damit begründen, daß er ein Mensch von außergewöhnlichem Format war. Erstaunlicherweise gab es zwischen ihnen eine Übereinstimmung, eine unsichtbare Verbindung, ein Band, das sie inzwischen wie eine Fessel empfand. Wie unerwünscht und ohne ihr Zutun das auch geschehen sein mochte, Olivia konnte nicht länger leugnen, daß Jai Raventhorne sie als Mann, als attraktiver, aufregender und sinnlicher – jawohl, gestand sie sich, als sinnlicher Mann – am meisten reizte.
»Erzählen Sie mir von ihm, Kinjal.«
Sie waren wieder allein und schlenderten durch den duftenden Kräutergarten, belebt von der erfrischenden nächtlichen Brise des Südens. Über ihnen kreiste das nächtliche Himmelsgewölbe mit der Last seiner Sterne, deren Bewegung das unwiderrufliche und unabänderliche Verstreichen der Zeit sichtbar werden ließ. In Olivias Bitte lag ein drängender Ton, der die Maharani nicht überraschte. Es war zu spät für jede Verstellung. So mußte sie auch nicht fragen, wen Olivia meinte. Sie hatten stillschweigend denselben Gedanken.
»Ja«, erwiderte sie schlicht. »Sie haben vor allen anderen Menschen das Recht, mehr zu erfahren.«
Olivia blieb stehen. »Weshalb sagen Sie das?«
»Weil …« Kinjal machte eine Pause, als suche sie die richtigen Worte, »weil Sie Jais Aufmerksamkeit erregt haben. Diese Aufmerksamkeit läßt sich nicht leicht wecken, und wenn es einem Menschen gelungen ist, muß er manchmal«, sie seufzte leicht, »teuer dafür bezahlen.« In den großen schwarzen Augen lag ein Ausdruck, der Olivia erschreckte. Es war Mitleid.
»Erzählen Sie mir trotzdem von ihm.« Die Ungeduld und das innere Drängen ließen alle anderen Überlegungen bedeutungslos werden.
»Ich möchte gern alles über ihn wissen.«
»Das sollen Sie, meine Freundin, das sollen Sie.« Kinjal lächelte über Olivias Ungeduld. Aus der Gruppe von Frauen, die in der Nähe saßen und leise sangen, rief sie eine Dienerin herbei und befahl ihr, Teppiche und Kissen zu bringen. »Wir können es uns ebensogut hier bequem machen. Es ist eine lange Geschichte, und es wird auch lange dauern, sie zu erzählen.«
Fünftes Kapitel
Der verstorbene Maharadscha, erzählte Kinjal, der Vater ihres Mannes, habe ihnen erstaunlicherweise die meisten Informationen über Jai Raventhornes Herkunft geliefert. Der alte Maharadscha interessierte sich sehr für seine Mitmenschen, seien sie nun arm oder reich, und er hatte die Angewohnheit, inkognito durch Kalkutta und andere Orte zu reiten. Auf einem solchen Ausflug und nur in Begleitung eines Dieners machte er eines Tages Rast in einem Gasthaus. Als sie im Hof saßen und sich mit anderen Gästen unterhielten, fiel sein Blick auf einen etwa vierzehnjährigen Jungen, der am Brunnen Geschirr und die großen schweren Töpfe wusch. Der Junge war zerlumpt, schmutzig und wirkte halb verhungert.
Zwei ungewöhnliche Dinge zogen die Aufmerksamkeit des Maharadscha auf sich. Der Kleine stand nicht unter Aufsicht seines Herrn, erledigte seine schwere Aufgabe aber trotzdem mit Hingabe und Konzentration. Seine seltsam silbrigen Augen waren dabei ohne erkennbaren Ausdruck. Der Junge war offenbar ein
Weitere Kostenlose Bücher