Wer Liebe verspricht
Sie sah den Mann vor sich, der aus dem Jungen geworden war und konnte die Verwandlung nicht glauben. Sie drehte sich zur Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und fragte: »Und dann?«
»Dann«, erzählte Kinjal weiter, »hörte man viele Jahre lang nichts mehr von Jai. Es gab auch niemandem, mit dem er hätte Kontakt aufnehmen können. Vielleicht war der Vater meines Mannes sein einziger Freund gewesen, und er starb. Jai wußte nicht, wer er war, und hatte sich auch nie nach seinem Namen erkundigt.«
Arvind Singh wurde Maharadscha von Kirtinagar. Er kannte die Geschichte von dem kleinen Tellerwäscher, der ein Freund seines Vaters geworden war, aber im Laufe der Zeit vergaß er sie. Von einem Stallburschen in jenem Gasthaus erfuhr Jai jedoch später, wer sein Freund gewesen war. Und nach zwölf Jahren erschien er als Jai Raventhorne und wollte den Maharadscha sprechen. Als Arvind Singh sich an die alte Geschichte erinnerte, staunte er über den gepflegten, reichen Herrn, der wie eine Verkörperung des vollkommenen Gentleman vor ihm stand. Er konnte einfach nicht glauben, daß der weltgewandte, selbstbewußte Fremde, der sich so kultiviert mit ihm unterhielt, der schmutzige Tellerwäscher sein sollte, von dem sein Vater gesprochen hatte. Raventhorne hörte mit sichtlicher Trauer, daß der gütige alte Mann, der ihm so viel Freundlichkeit entgegengebracht hatte, gestorben war. Arvind Singh bewunderte Raventhornes Erfolg und die ungeheuren Anstrengungen, die ihm dazu verholfen haben mußten. Die beiden Männer fanden sich sofort sympathisch. »Und«, so schloß Kinjal ihren Bericht, »seit dieser Zeit sind sie gute Freunde.«
Mit einer so märchenhaften Geschichte hatte Olivia nicht gerechnet. Tief bewegt fragte sie schließlich mit seltsam trockenem Mund:
»Und wer ist …«, sie trank einen Schluck Limonade, um überhaupt sprechen zu können, »Raventhornes Vater?«
Kinjal sah sie bekümmert an. »Wir wissen es nicht. Wenn Jai es weiß, dann redet er nicht darüber. Man erzählt, es sei ein englischer Matrose gewesen, der vermutlich seinen Sohn nie gesehen hat.«
»Und seine Mutter?«
»Sie soll angeblich von einem der Stämme aus den Bergen gekommen sein.«
»Ist sie … tot?«
»Sehr wahrscheinlich. Jai spricht nie über sie. Er hätte uns bestimmt mit ihr bekannt gemacht, wenn sie noch am Leben wäre. Mein Mann hat sich einmal nach ihr erkundigt, aber die Frage löste bei Jai so große Erregung aus, daß darüber nie wieder gesprochen wurde.«
Olivia empfand größtes Mitleid mit Jai Raventhorne, obwohl es wahrscheinlich niemanden gab, der es weniger verdiente als er. Es konnte bestimmt nicht leicht für ihn gewesen sein, sich unter so widrigen Umständen durchgesetzt und den Erfolg erzwungen zu haben. Sicher waren von den vielen Wunden der ungleichen Kämpfe Narben zurückgeblieben. Gegen ihren Willen hatte sie plötzlich Verständnis für manche seiner Verdrehtheiten, denn sie wußte, gewisse Wunden heilen schnell, andere nie. »Ist er mit dem Schiff damals nach Amerika gefahren?«
»Er sagt, er sei zunächst zweimal um die Welt gesegelt und habe dabei Navigation gelernt.«
»Spricht er über seine Erlebnisse?«
Kinjal verzog das Gesicht. »Nur, wenn ihm danach zumute ist. Er sagt, Amerika habe dann endgültig einen Mann aus ihm gemacht. Ein Kaufmann in Boston stellte ihn als Gehilfen ein. Jai lernte schnell, arbeitete fleißig und wurde schließlich Partner im Unternehmen dieses Mannes.« Kinjal nahm den Schleier ab, schüttelte die langen Haare und begann, sie sorgfältig zu flechten. »Jai hat uns gesagt, daß dieser Mann Raventhorne hieß.«
Olivia setzte sich auf. »Raventhorne?«
»Ja. Er weiß nicht, wie sein Vater heißt. Bis er den Namen seines Wohltäters annahm, hatte er nur einen Vornamen.«
Das Schicksal hatte ihn wirklich grausam gedemütigt und benachteiligt. Schmerzlich berührt fragte sie: »Und was bedeutet sein Vorname?«
Kinjal antwortete lächelnd: »Jai bedeutet ›Sieg‹ – natürlich! Sie wissen doch, er muß immer siegen. Diese Besessenheit ist kein Geheimnis.«
»Hat er sein Schicksal, von dem er gesprochen hat, erfüllt?«
Kinjal lehnte sich mit einem tiefen Seufzer in die Kissen und blickte zu den Sternen hinauf. »Die Antwort auf diese Frage liegt im dunkeln. Jai tut sie als Scherz ab, als einen kindlichen Traum.«
»Glauben Sie ihm das?«
Kinjal schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, Jai neigt nicht zum Träumen. Der alte Maharadscha hatte den
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