Wer liest, kommt weiter
Aufenthalt von acht Minuten zu einem Gespräch mit einem armen Mitmenschen nutzt, kann für die Leser ein Vorbild sein. Vielleicht ist ihm auch im Zug nach Stuttgart eingefallen, wie er dem Mann ein wenig hätte helfen können, der beim Betteln von den frommen und geizigen Leuten wenig bekommt; Saller hätte ihm 20 Mark geben und die nächste Betteltour ersparen können ...
Gute Literatur gibt uns so die Möglichkeit, über den Menschen und die Mitmenschen nachzudenken. Das beginnt bei der Lektüre der biblischen Geschichten, die uns ja vor allem deshalb so bewegen, weil uns das Verhalten vieler biblischer Gestalten, angefangen bei Adam und Eva, so nahe geht. Das gilt für alle Dramen, die uns Menschen in Entscheidungen vor Augen stellen, sowie für fast alle Erzählungen und Romane, die, längst vor der Etablierung der wissenschaftlichen Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts, den Lesern Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele geben. Das gilt für die Romane von Jane Austen und Emily Brontë, von Dickens und Henry James, von Stendhal und Flaubert, von Dostojewski und Tolstoi, von Keller, Stifter, Fontane und Thomas Mann, um nur einige unter den älteren Autoren zu erwähnen, die in der Liste der »Lieblingsbücher für junge Leser« genannt sind.
Natürlich kann man auch in einem Film das Verhalten von Menschen zeigen, doch selbst bei einer Großaufnahme sehen wir das Äußere der Menschen, nicht ihre Gedanken. Auch ist das Tempo der Bilder oft zu hoch, um uns die Möglichkeit zum Nachdenken zu lassen, was beim Lesen möglich ist.
Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) zum Beispiel untersucht in ihrer Kriminalnovelle Die judenbuche (1842), an der sie mehr als drei Jahre gearbeitet hat, wie es dazu kommen konnte, daß Friedrich Mergel, geb. 1738, im Herbst 1760 einen Juden erschlägt. Sie beginnt mit einem programmatischen Gedicht über die Wirkung von Vorurteilen. Doch es geht der Dichterin um alle möglichen Einflüsse auf die Entwicklung Friedrichs: um seinen Geburtsort in der Abgeschiedenheit westfälischer Wälder, in dem die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten ... waren, seine Vorfahren und seine Eltern, die Mutter ist eine stolze Bauerntochter, die spät einen Alkoholiker heiratet.
Sie erwähnt die Bedeutung der Schwangerschaft (obwohl unter einem Herzen voll Gram geboren, war Friedrich ein gesundes hübsches Kind, das in der frischen Luft kräftig gedieh), sie läßt uns an wichtigen Gesprächen zwischen Mutter und Sohn teilnehmen, über das Beten und den Teufel, über den Vater, der nach Hause gebracht wird (»Da bringen sie mir das Schwein wieder!«), diesmal aber nicht betrunken, sondern tot (da ist Friedrich acht), über die Förster und die Juden, die »alle Schelme« sind.
Wir erleben, wie Onkel Simon Semmler, geheimer Anführer der Holzfrevlerbande »Blaukittel«, den 12jährigen zu sich holt.
Ein Höhepunkt der Novelle ist die Begegnung zwischen Friedrich, inzwischen 18, und dem Förster Brandis – im Juli 1756 früh um drei. Friedrich liegt als Aufpasser der »Blaukittel« im Gras. Aus dem Walde drang von Zeit zu Zeit ein dumpfer, krachender Schall. Plötzlich ... pfiff [er] gellend und anhaltend ... In demselben Augenblicke taucht Brandis auf und nimmt Friedrich ins Gebet: »... Hast du nichts im Walde gehört?« – »Im Walde?« – Der Knabe warf einen raschen Blick auf des Försters Gesicht. – »Eure Holzfäller, sonst nichts. «
Brandis wird wütend und beschimpft Friedrich als Hund und seine Mutter als alte Hexe. Der Beschimpfte will sich rächen und schickt Brandis mit List und Lüge dorthin, wo sich die Holzdiebe versteckt halten, bereut es aber wenig später:
Der Förster schlug den bezeichneten Weg ein. ... Da blitzte es noch einmal durchs Laub. Es war ein Stahlknopf seines Jagdrocks; nun war er fort. Friedrichs Gesicht hatte während dieses allmähligen Verschwindens den Ausdruck seiner Kälte verloren und seine Züge schienen zuletzt unruhig bewegt. ... Er ging einige Schritte voran, blieb dann stehen. »Es ist zu spät«, sagte er vor sich hin und griff nach seinem Hute. Ein leises Picken im Gebüsche, nicht zwanzig Schritte von ihm. Es war der Förster, der den Flintenstein schärfte. Friedrich horchte. – »Nein!« sagte er dann mit entschlossenem Tone, raffte seine Siebensachen zusammen und trieb das Vieh eilfertig die Schlucht entlang.
Das leise Picken signalisiert die Entscheidung, Brandis nicht
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