Wer liest, kommt weiter
kennt (da melden sich einige) und wie einer dazu wird, und da wissen fast alle: Arbeitslosigkeit, Scheidung, Alkohol ...
Hans Joachim Schädlich: Am frühen Abend (1985)
Am frühen Abend des achtundzwanzigsten Februar betrat der junge Handelsreisende Saller die kleine Halle des Bahnhofs von Schwäbisch-Hall, einem Ort in der Nähe Stuttgarts.
Die Luft ist um diese Zeit kalt, so daß Saller die Helle und Wärme der kleinen Halle willkommen war. Er sah, daß auf dem steinernen Fußboden vor dem Ofen ein Mann lag. Saller gab sich den Anschein, als achte er nicht auf den Schlafenden. Er betrachtete den Fahrplan, suchte die Abfahrtszeit des Zuges, mit welchem er in das nahe Stuttgart fahren wollte, sah auf die Uhr über der Tür und warf einen schnellen Blick auf den Mann. Saller bemerkte, daß der Mann sich den Anschein gab, als bemerkte er Saller nicht.
Saller setzte sich. Zu seiner Linken hatte er den halbwachen Mann im Auge.
Bis zur Einfahrt seines Zuges waren es noch sieben, bis zur Abfahrt acht Minuten. Saller rechnete zwei Minuten für den Weg zum Bahnsteig. Sechs Minuten kann ich ausruhen, sagte er.
Der Mann sagte nichts.
Saller sah das strähnige, wirre Haar des Mannes, die schmutzigbraune Haut des Gesichts, den schütteren Vollbart, die fleckige Joppe, deren Knöpfe fehlten, die schmutzig-schwarzbraune Haut der Hände, die schmierige Hose, die nassen Halbschuhe.
Saller sagte auf gut Glück, Es ist zu kalt auf dem Steinfußboden. Ref 42
Der Mann öffnete die Augen, sagte, Ich wollte am Ofen stehen, aber die Beine, die verdammten, tragen mich nicht mehr. Ich bin zusammengesackt. Ich habe Beine, ganz kaputt. Wund. Die Wunden groß wie meine Hand.
Auf der Bank wäre es besser für Sie, sagte Saller und zeigte auf den Platz neben sich.
Aber wie hinkommen, sagte der Mann.
Ich könnte Ihnen helfen, sagte Saller.
Aber Sie können mich nicht tragen, sagte der Mann.
Nein, sagte Saller.
Ich hab mir was gebettelt in Schwäbisch-Hall, sagte der Mann. Aber nicht viel. Leute, fromm und geizig.
Wo wollen Sie hin, sagte Saller.
Wo will ich hin, sagte der Mann. Wohin soll ich wollen. Ich bin hier.
Hier können Sie nicht bleiben, sagte Saller.
Wie soll ich weg? Allein schaff ich es nicht. Mir hilft kein Gott und kein Bulle. Und wenn ich drei Mal schrei, Herzlieber Jesu mein.
Sie brauchen einen Arzt, sagte Saller.
Du redest, wie du’s verstehst. Wie klein Moritz, sagte der Mann. Bezahlst du den Arzt?
Nein, sagte Saller. Einen Notarzt.
Hatte ich schon, sagte der Mann. Hat leise gesagt zu mir, Dreckskerl elender.
Sie müssen in ein Krankenhaus, sagte Saller.
Und wo?, sagte der Mann.
In Stuttgart, sagte Saller.
Bravo!, sagte der Mann. Darauf noch’n Asbach uralt. Ich schaff’s nicht bis zu deiner Bank, der Doktor faßt mich nicht an, die Bullen rollen mich aus’m Bahnhof und der liebe Gott selig pfeift auf mich. Nee, Märchen glaub ich nur noch meine eigenen.
Saller schwieg.
Der Zug nach Stuttgart fuhr ein, Saller stand auf, sagte, Auf Wiedersehen! und ging auf den Bahnsteig.
Der Mann sagte, Er hilft mir auch nicht.
Diese Erzählung ist einerseits ganz realistisch (die 23 wörtlichen Reden klingen wie protokolliert), andererseits eine Parabel über die scheinbare Sinnlosigkeit mancher Gespräche. Saller sucht das Gespräch, aber Er hilft auch nicht, so wenig wie die Ärzte, die Bullen, die Leute und selbst Gott – dies sagt der Obdachlose am Ende auch uns, den Lesern!
Kann ihm wirklich niemand helfen? Doch! Der Dichter, der ihm und uns im Sinn von Horaz nützlich ist, indem er die Leser zum Nachdenken bringt: wie verschiedene Menschen auf den Mann mit seinen Wunden reagieren (besonders schlimm: dieser Notarzt); über Sallers Hilfsbereitschaft, über die sich der Mann am Ende vielleicht doch ein wenig gefreut hat; schließlich die Frage, was Jesus in dieser Geschichte zu suchen hat.
Mit dieser Frage nähern wir uns einem Geheimnis dieser Parabel vom Handelsreisenden Saller. Der Branntweinsäufer von Kleist, ein Vorläufer dieses Obdachlosen in Schwäbisch Hall, kann mit Jesus in der Wüste verglichen werden.
An wen aber erinnert der »Handels reise nde« Sa ll er? An den »Sa marit er , der auf der Reise war« (Lukas 10,33), einen überfallenen Mann liegen sieht, seine Wunden verbindet und dem Gastwirt Geld für die weitere Pflege hinterläßt!
Anders als damals gibt es heute eine staatliche Fürsorge. Die Nächstenliebe, um die es im Gleichnis Jesu geht, ist jedoch nicht überflüssig geworden. Saller, der einen
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