Wer liest, kommt weiter
Artikeln in Zeitungen, Illustrierten und Zeitschriften berichtet wird, aber auch die Beeinträchtigung unserer eigenen Sehfähigkeit durch die Überfülle der Bilder, die uns die visuellen Medien liefern.
Zum Glück können uns Künstler und Dichter den genauen und liebevollen Blick auf die Natur lehren:
Wulf Kirsten: Minzower elegie (1971)
auf nebelbänken ruhte die nacht.
wir gingen durch koppeln,
atmeten grasduft.
das knirren der rinder rief uns nach.
undurchdringlich die leeren felder.
der weg zum see erzählte geschichten,
die ich vergaß.
wir schwiegen in die gespiegelte stille,
der es den atem verschlug. –
die erinnerungen leben getrennt.
nichts wiederholt sich:
der grasgeruch jener nacht,
die regungslosigkeit der leeren felder,
die strömung des mondrauchs über dem see,
gesichter, vergraben in laub.
(der bleibaum, 1977)
Sarah Kirsch: Das Dorf
Am Abend war die Stille vollkommen.
Die Grillen verstummten in ihren Löchern
Auf dem Hügel die Eiche
Stand schwarz vor lackrotem Himmel.
Da kam ich ins Dorf aus dem Moor.
Ging übers glänzende Stoppelfeld
Stern und Steine leuchteten hell
In den Häusern flammte das Licht auf.
Zermahlener Staub auf der Straße.
Knöterich unter den Füßen
Reichte von Tür zu Tür, ein Sommertagteppich.
(Rückenwind, 1977) Ref 40
Michael Krüger:
Meditationen unter freiem Himmel
16
Wer weiß, wie und wann die Vögel sterben?
Die Raben, die unten über den Acker staken
und vor jeder Maus zittern,
was bringt sie dazu, sich im Unterholz
zu verkriechen und den Atem einzustellen?
Und die Finken und Rotkehlchen,
gerade erst dreitausend Kilometer geflogen,
mit geschlossenen Augen, wann sagt ihnen
eine innere Uhr, daß es Zeit ist, die Flügel
für immer anzulegen? Warum sieht man
nie eine tote Eule oder ein Käuzchen?
Hier und da ein Knöchelchen, im Wald,
der widerhallt von dem großen Chor
der überlebenden Vögel. Die Vögel lügen,
sie belügen sich und mich, der ich
hier warte auf ihre kleinen Körper,
damit ich sie begraben kann
in Demut und voller Scham.
(Unter freiem Himmel, 2007)
Günter Kunert: Kalenderspruch
Immer noch: Der blasse Mond.
Die alte Erde: Noch bewohnt.
Natur: Ein Anlaß zum Gedicht.
Zum Wörterspiel. Zum Weltgericht.
Hier: Meine Hand. Noch greift sie zu.
Und hält sich fest. An einem Du.
(Berlin beizeiten, 1987) Ref 41
Jedes dieser Gedichte von vier Dichtern, deren Namen zufälligerweise mit K beginnen (das war freilich kein Kriterium für die Auswahl), zeigt uns, wenn wir sie hören und uns ihre Bilder vorstellen, die Natur von einer anderen Seite.
Wulf Kirsten erinnert sich in seinem Gedicht an einen nächtlichen Spaziergang zu zweit beim Dorf Minzow in der Mecklenburgischen Seenplatte.
Sarah Kirsch verbrachte den Sommer 1975 im Haus von Christa Wolf in Meteln nördlich von Schwerin, ebenfalls in Mecklenburg, und schrieb dort ihre Naturgedichte, darunter auch, wie Wulf Kirsten, einige kritische Gedichte über die zunehmende Umweltzerstörung.
Trotzdem kann es gelingen, den Blick bewußt auf das Schöne der Natur zu richten. Wir können das Schöne sehen und auf die Geheimnisse der Natur achten. Dann wird es möglich, mehr zu sehen, als wir bisher sahen, und das Gesehene zu reflektieren wie Michael Krüger, der sich beim Anblick von Raben fragt, wie und wann die Vögel sterben, und am Ende Demut und Scham empfindet. Demütig war auch die Haltung des hl. Franziskus zur Natur; und Scham können wir empfinden beim Gedanken an ihre Zerstörung.
Der Kalenderspruch von Günter Kunert schließlich gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, was wir als dialogische Lebewesen noch mehr brauchen als das Anschauen des Schönen, nämlich unsere Mitmenschen.
Um unsere Mitmenschen kennenzulernen, gibt es keine bessere Möglichkeit, als mit ihnen zu sprechen. Aber vieles bleibt unausgesprochen, und anderes kann kaum gefragt werden. Manches über die Menschen kann man deshalb vielleicht sogar besser beim Lesen von Büchern erfahren, auch beim Lesen von guten Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, in denen erfundene oder wirkliche Menschen zu Wort kommen.
15. Wer liest, lernt die Menschen besser kennen
Das wohl Wichtigste in unserem Leben sind die Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Um sie besser verstehen zu können, kann uns das Lesen helfen. Dazu eine geheimnisvolle Erzählung, die man mit Achtzehn-, aber auch mit Zwölfjährigen lesen kann. Zuvor kann man fragen, wer einen Obdachlosen
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