Wer liest, kommt weiter
zurückzurufen, der wenig später tot aufgefunden wird. Friedrich macht sich Vorwürfe, möchte zur Beichte. Auch diesmal hören wir im Moment der Entscheidung, doch nicht zur Beichte zu gehen, ein leises Geräusch. Diese beiden Entscheidungen fördern eine unglückliche Wendung seines Charakters hin zu einem grenzenlosen Hochmut und einem sehr empfindlichen Ehrgefühl.
Dieses wird vier Jahre später zutiefst getroffen, als ihm der Jude Aaron bei einer Hochzeit öffentlich vorhält, daß er ihm noch zehn Taler für eine Taschenuhr schuldet, mit der Friedrich zuvor geprahlt hat: Die Tenne tobte von Gelächter.
Bald darauf findet man Aaron ermordet unter einer Buche, und Friedrich Mergel verschwindet. 28 Jahre später kehrt er unter falschem Namen am Heiligen Abend nach Hause zurück. Doch anders als Trakls Wanderer findet er keinen Frieden und erhängt sich schließlich in der »Judenbuche«.
Man kann diese Novelle immer wieder lesen und wird dabei jedesmal Neues entdecken. Das gilt auch für Georg Büchners (1813–37) Antwort auf Goethes Faust, für Woyzeck (1836) mit der Erkenntnis »Jeder Mensch ist ein Abgrund«, für die Novelle Brigitta (1843) von Adalbert Stifter, die Geschichte eines häßlichen Mädchens mit zwei schönen Schwestern, oder für Marie von Ebner-Eschenbachs Tiergeschichten Krambambuli (1883) und Die Spitzin (1888), in denen Tiere mehr Treue und Liebe zeigen als die Menschen.
Das gilt erst recht für die meisten Romane, in denen wir Menschen kennenlernen, über die der Autor beim Schreiben lange nachgedacht hat und über deren Verhalten und Entwicklung auch wir beim Lesen nachdenken können.
Dazu noch zwei Erzählanfänge, ein kurzer und ein längerer:
Ich wohne seit gestern einen Stock tiefer. Ich will es nicht laut sagen, aber ich wohne tiefer. Ich will es deshalb nicht laut sagen, weil ich nicht übersiedelt bin.
Was Ilse Aichinger in ihrer Erzählung Wo ich wohne (1955) eine Frau berichten läßt, ist sehr merkwürdig. Die Frau findet eines Abends ihre Wohnung nicht im 4., sondern schon im 3. Stockwerk, traut sich nach einer schlaflosen Nacht aber nicht, jemanden zu fragen, was passiert sein könnte. Am Ende wohnt sie im Keller und hat Angst, irgendwann im Kanal zu landen.
Als ich diese Geschichte im Sommer 1980 zur Vorbereitung der ersten Lesung von Ilse Aichinger am Gymnasium Weilheim im Deutschunterricht besprach, fragten sich die älteren Schüler, wie eine Wohnung absinken kann. In der 5. Klasse jedoch sagte ein Bub: »Da liegt jemand im Bett und hat Angst.« Und ein Mädchen, wörtlich: »Da ist jemand seelisch abgerutscht!« In der Tat wird hier eine Depression erzählt. Ref 43
Außerdem gibt es noch einen absurden Hintergrund: In den alten Häusern in Wien wurde, um die »Stockwerkssteuer« zu umgehen, der erste Stock »Mezzanin« genannt. Deshalb heißt es noch heute in der Marc-Aurel-Straße 9 im 1. Wiener Bezirk, wo Ilse Aichinger mit ihrer jüdischen Mutter am Ende des Krieges in ständiger Angst schräg gegenüber vom Gestapo-Hauptquartier im 4. Stock wohnte, im eigentlichen 2. Stock an der Wand gegenüber vom Aufzug »I. Stock«, im 3. Stock »II. Stock« und im 4. Stock »III. Stock«.
Zum Abschluß dieses notwendigerweise fragmentarischen Kapitels noch der Anfang des psychologischen Kriminalromans Albissers Grund (1974) von Adolf Muschg:
An einem Spätsommertag des Jahres 73 wurden dem Ausländer Zerutt, Constantin, Alter ca. 60, Herkunft ungeklärt, in seiner Wohnung Badgasse 23 a folgende Verletzungen beigebracht: ein Lungensteckschuß, ein Schulterdurchschuß, ein Streifschuß beim linken Auge; fünf weitere Schüsse wurden in den Türrahmen der Altwohnung abgegeben. Die Tatwaffe: eine widerrechtlich zurückbehaltene Ordonnanzpistole Kaliber 9 mm; der Täter, ein Dr. phil. Albisser, Peter, war aus der Schweizer Armee ausgeschlossen worden und hatte auch seit einem Jahr seinen Dienst als Englischlehrer an einem Zürcher Gymnasium quittiert. Er befand sich seit längerer Zeit bei Zerutt in einer Art Behandlung; Zerutt war der Fremdenpolizei als Graphologe bekannt. Täter und Opfer setzten der Untersuchung schwer zu bestimmende Widerstände entgegen. Die Behörde sah sich veranlaßt, das Verhältnis der beiden Männer auszuleuchten nach seinem Grund.
Wenn man diesen oder andere Romane liest, ist man keineswegs immer einverstanden mit dem, was die Figuren da tun und was sie denken. Aber ebendies gehört auch zum Vergnügen des Lesens und zu den Erkenntnissen, die wir
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