Wer liest, kommt weiter
digitalisierte Bücher. Denn vor allem gibt es im Internet Unterhaltendes, alle möglichen Glücksspiele, unzählige Musikstücke zum Hören und auch zum Sehen, Milliarden von Fotos und Hunderte von Millionen Videoclips.
Und all dies ist dank Tablet-Computer und vor allem dank Handy fast überall auf der Welt und jederzeit verfügbar: 24 Stunden pro Tag, 365 Tage im Jahr. Diese totale Verfügbarkeit bedeutet zugleich ein immenses Verführungspotential. Überall und immer werden wir sozusagen »angemacht«.
Das erfolgreichste Angebot im Internet aber war von Anfang an Sex und Pornographie. Hier läßt sich exemplarisch die Übermacht der Bilder gegenüber Texten zeigen und so der Übergang von einer hörenden und lesenden zu einer zuschauenden Gesellschaft illustrieren.
Von der Pornographie zur Pornovision
Die neuen Medien verdanken überhaupt nur der Pornografie ihre Expansion. Ohne dieses lukrative Pornogeschäft hätten sich Video, DVD und Internet gar nicht in dieser rasenden Geschwindigkeit entwickeln und verbreiten können . So Alice Schwarzer, die seit Jahrzehnten gegen die frauenverachtende Pornographie kämpft, in ihrem Aufsatz Pornografie ist geil (Emma 10/2007).
Die Pornographie im Internet ist jedoch ein Tabu. Jahrelang wurde so getan, als koste sie viel und als könne man sie durch Filter vermeiden. Auch schien der »schnelle Zugang« ins Internet ein Bedürfnis der Wißbegierigen, vor allem aber ging es um die Datenmengen, die man herunterladen wollte. Und die »Musiktauschbörsen« waren bald auch Porno-Tauschbörsen.
Der Siegeszug der Pornographie hat damit zu tun, daß es nicht mehr um Pornographie geht, sondern um »Pornovision«. Pornographie, »Huren-Literatur und -Graphik«, war seit jeher teuer und nur sehr wenigen zugänglich und betraf nur diese. Als in den 1960er Jahren die Abschaffung der Zensur gefordert wurde, ging es zunächst auch nur um Bücher wie Fanny Hill oder Lady Chatterley , Romane mit fiktiven Sex-Heldinnen.
Zugleich rauschte eine fotografische Sexflut durch Illustrierte und Filme. Um 1970 begann dank Video die Pornovisions-Industrie zu boomen. Heute ist das Internet der größte Sexshop der Weltgeschichte, ein scheinbar diskretes, gigantisches virtuelles Gratis-Bordell, durch das männliche Jugendliche überall und jederzeit vom Lernen und vom Lesen abgelenkt werden.
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, der 1970 noch für die »Freigabe« der Pornographie plädiert hatte, sagte am 23.5.1986, längst vor der Ausbreitung des Internets, der F.A.Z.:
Der Prozeß der sogenannten Liberalisierung, den wir in den 60er und 70er Jahren durchmachen mußten, war von verheerender und ängstigender Wirkung. Wir leben in Leistungszwängen, Beunruhigungen und Riskierungen, die uns das Zusammenleben in der Partnerschaft noch schwieriger gemacht haben. Nur privilegierten Menschen gelingt es, sich über diese Riskierungen hinwegzusetzen und der allgemeinen Reizung von außen mit Anstand und Sitte – ich wähle bewußt diese altertümlich erscheinenden Ausdrücke – hinwegzusetzen. Wie kann das gelingen?
Könnte Gyges ein Vorbild sein, Leibwächter des lydischen Königs Kandaules? Dieser preist seine Frau bei Gyges über alle Maßen. Das erzählt uns der griechische Historiker Herodot (ca. 485–425 v. Chr.) im 1. Buch seiner Historien. Gyges aber reagiert zurückhaltend, weshalb Kandaules sagt:
»Ich habe den Eindruck, Gyges, du glaubst mir nicht, wenn ich über das Aussehen meiner Frau spreche – es sind ja die Ohren der Menschen weniger leicht zu überzeugen als die Augen – also sorge dafür, dass du meine Frau nackt erblickst.«
Das Gehörte ist also unglaubwürdiger (a-pistótera, zu pistis, ) als das Gesehene (daher auch die Macht der visuellen Medien). Gyges ist entsetzt, doch Kandaules drängt ihn:
»Auf folgende Weise will ich ... dafür sorgen, dass sie gar nicht bemerkt, wenn sie von dir gesehen wird: Ich werde dich in unserem Schlafzimmer hinter die geöffnete Türe stellen. Wenn ich das Schlafzimmer betreten habe, wird sich nach mir auch meine Frau einfinden, um sich zur Ruhe zu begeben. Nahe der Eingangstüre steht ein Sessel. Auf diesen wird sie nach und nach beim Ausziehen jedes Kleidungsstück hinlegen und dir so Gelegenheit bieten, sie in aller Ruhe zu betrachten.«
So wird Gyges widerwillig Voyeur des wohl ersten Striptease der Weltliteratur. Doch die Königin bemerkt ihn, ohne es sich merken zu lassen, und stellt ihn am nächsten Tag vor die
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