Wer liest, kommt weiter
Art. So hieß es im Mai 2012 auf der Webseite der Suchtpräventions-Stelle des Kantons Zürich zum Suchtverhalten Internet nutzen [sic]:
Ausgehend von einer in der Schweiz durchgeführten Studie geht eine Schätzung davon aus, dass hierzulande ungefähr 70 000 Personen onlinesüchtig und 110 000 gefährdet sind. Onlinesüchtige verbringen durchschnittlich 35 Stunden pro Woche ausserberuflich auf [sic] dem Netz. 180 000 Online-Süchtige und Suchtgefährdete? Das wäre die siebtgrößte Stadt der Schweiz und mehr als 3 Prozent der Bevölkerung zwischen 10 und 60 Jahren.
Was aber empfiehlt dieselbe Suchtstelle in ihrem Flyer Handy, Fernseher, Computer – Abhängigkeit vermeiden. Tipps für Eltern von 5- bis 12-Jährigen aus dem Jahr 2011?
Umgang früh lernen: ... Je früher Kinder lernen, Medien sinnvoll zu nutzen, desto besser, denn einmal gelernte Verhaltensweisen lassen sich später nur schwer korrigieren.
Dazu Bert te Wildt, Arzt und Spezialist für Internetabhängigkeit, in seinem Buch Medialisation. Von der Medienabhängigkeit des Menschen (2012): Wir haben es bei der Medienabhängigkeit in ganz besonderem Maße mit Heranwachsenden zu tun. Wir wissen, je eher Kinder mit einem Suchtmittel in Kontakt kommen, desto größer ist die Gefahr, von diesem abhängig zu werden.
Und je mehr Zeit Kinder mit visuellen Medien verbringen, desto weniger werden sie lesen lernen und lesen, und desto eher ergeht es ihnen wie dem Gesellen bei Eichendorff, der Jahre seines Lebens an verlockende Sirenen verliert: Und wie er auftaucht vom Schlunde, da war er müde und alt.
Das hätte man längst bedenken können. Denn unser Zeitalter der Süchte wurde von klugen Philosophen und Dichtern früh vorhergesehen. Ref 90
Frühe Warnungen wurden überhört
Hätte der atemberaubende Erfolg der visuellen Medien in den letzten Jahren verlangsamt werden können? Das ist in Anbetracht der Faszination der Medien und der Geschäftstüchtigkeit der Medienkonzerne kaum denkbar. Eher könnte es jetzt, da die Auswirkungen eines exzessiven Medienkonsums sichtbar werden, zu einem Umdenken kommen. Dabei könnte uns die Erinnerung an die Philosophen und Dichter helfen, die früh vor einer Überbetonung des Visuellen gewarnt haben.
Als erster sei Platon genannt (ca. 427–347 v. Chr.), Schüler des Sokrates (469–399) und Lehrer des Aristoteles (384–322).
Platons berühmtestes Werk Der Staat (Politeia) beginnt so:
Ich ging gestern mit Glaukon, Aristons Sohn [und Platons Bruder], nach dem Piräus. Der Göttin wollte ich mein Gebet verrichten und dem Festzug zuschauen.
Der hier spricht, nämlich Sokrates, wird für seine Schaulust prompt »bestraft«. Einige junge Männer sehen ihn und nötigen ihn, obwohl er heim will, zu bleiben. Zuerst wollen sie noch den Fackellauf zu Pferde anschauen und ein Nachtfest, das sehenswert ist, und sich dann mit ihm über philosophische Dinge unterhalten. Ref 91
Dabei geht es auch um die Erziehung zum rechten Sehen. Am Anfang des 7. Buchs erzählt Sokrates das Höhlengleichnis:
›Und jetzt will ich dir ein Gleichnis für uns Menschen sagen, wenn wir wahrhaft erzogen sind und wenn wir es nicht sind. Denke dir, es lebten Menschen in einer Art unterirdischer Höhle, und längs der ganzen Höhle zöge sich eine breite Öffnung hin, die zum Licht hinaufführt. In dieser Höhle wären sie von Kindheit an gewesen und hätten Fesseln an den Schenkeln und am Halse, so daß sie sich nicht von der Stelle rühren könnten und beständig geradeaus schauen müßten. Oben in der Ferne sei ein Feuer, und das gäbe ihnen von hinten Licht. Zwischen dem Feuer aber und diesen Gefesselten führe oben ein Weg entlang. Denke dir, dieser Weg hätte an seiner Seite eine Mauer, ähnlich wie ein Gerüst, das die Gaukler vor sich, den Zuschauern gegenüber, zu errichten pflegen, um darauf ihre Kunststücke [thaumata = Wunder] vorzuführen.‹
›Ja, ich denke es mir so.‹
›Weiter denke dir, es trügen Leute an dieser Mauer vorüber, aber so, daß es über sie hinwegragt, allerhand Geräte, auch Bildsäulen von Menschen und Tieren aus Stein und aus Holz und überhaupt Erzeugnisse menschlicher Arbeit. Einige dieser Leute werden sich dabei vermutlich unterhalten, andere werden nichts sagen.‹
›Welch seltsames Gleichnis! Welch seltsame Gefangene!‹
›Sie gleichen uns!‹
Sokrates möchte Glaukon und uns mit diesem Gleichnis deutlich machen, daß das, was wir normalerweise sehen, nicht das Eigentliche ist. Das Eigentliche sind
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