Wer Mit Schuld Beladen Ist
geschmeckt habe.
Auf dem Weg in die Kirche erfüllte Clare ein immer stärker werdendes Gefühl der Bedrohung. Etwas Schlimmes musste passiert sein. Hoffentlich keinem Gemeindemitglied. In der Vergangenheit waren Mitglieder ihrer Gemeinde erkrankt, verletzt worden, zu Tode gekommen. Lois hätte ihr sofort sämtliche Einzelheiten berichtet. Sie wäre nicht so erschüttert. Es musste etwas Persönliches sein.
O Gott, was, wenn es ihr Vater war? Er besaß ein kleines Flugunternehmen, er flog fast täglich – was, wenn etwas schiefgegangen war?
Nein, das ergab keinen Sinn. Ihre Mutter oder einer ihrer Brüder hätte sie umgehend angerufen. Wen kannte sie noch, der vielleicht …
Dann begriff sie. Es gab noch jemanden, dessen Beruf ihn in Gefahr brachte. Sie stieß die Tür zum Altarraum auf und entdeckte eine Gestalt, die im Dämmerlicht des Nordgangs stand. »Ist es Russ?«, fragte sie. »Ist Russ etwas zugestoßen?«
Anne Vining-Ellis, Clares beste Freundin innerhalb ihrer Gemeinde, drehte sich um. Ihr Gesicht, das normalerweise einen durchtriebenen Sinn für Humor verriet, war ernst. »Nein«, sagte sie, »es geht um seine Frau. Linda Van Alstyne wurde gestern ermordet.«
8
E s war eher eine Totenwache als eine Einsatzbesprechung.
Dienstagmorgen, sechs Uhr. Marks Schicht war offiziell beendet, und er hatte seit Montagmorgen nicht mehr geschlafen, doch verglichen mit dem Chief wirkte er wie eine Reklame für orthopädische Matratzen.
Sie saßen in der Einsatzzentrale, alle, die an den Ermittlungen beteiligt waren. Eric McCrea sah pausenlos zwischen dem Chief und Lyle MacAuley hin und her, als wollte er herausfinden, wer von den beiden zuerst zusammenbrechen würde. MacAuley stand an der Wandtafel und notierte die wenigen Fakten, die sie kannten. Noble Entwhistle saß an seinem üblichen Platz, den Laptop aufgeklappt vor sich. Er sah aus wie immer und doch anders. Als ob jemand ihn gezeichnet und dann die harten Linien mit einem Gummi ausradiert hätte.
Kevin Flynn, der normalerweise Fragen stellend und gesprächig überall herumwuselte, saß schweigend da. Er steckte noch in Zivil, obwohl er irgendwann seine reflektierende orangefarbene Polizeiweste übergestreift hatte. Hin und wieder machte er ein Gesicht, als wollte er etwas sagen, doch dann senkte er den Kopf und knackte stattdessen mit den Knöcheln.
Und der Chief … Mark war kein frommer Mann, doch als er den Chief in der Dunkelheit vor der Dämmerung durch die Tür treten sah, dachte er: Gott, schütze mich, dass mir niemals so etwas widerfährt.
»… bring uns einfach auf den neuesten Stand«, sagte MacAuley. »Eric?«
McCrea erhob sich. »Die Spurensicherung von der State hat nichts gefunden, was ihnen besonders aufgefallen wäre. Ein paar Haare und unterschiedliche Fingerabdrücke. Wir wissen mehr, wenn wir den Bericht bekommen. Die Nachbarin hat alle Spuren zerstört, die im Schnee gewesen sein könnten, als sie zum Eingang hochgefahren und dann raus-und reingerannt ist.«
»Freundin«, knurrte der Chief. Er saß auf seinem üblichen Platz bei Besprechungen, auf dem massiven Eichentisch neben der Wandtafel, die Füße auf einem Stuhl.
»Äh … wie bitte, Chief?«
»Meg Tracey ist keine Nachbarin. Sie wohnt an der Dunedin Road. Sie ist – sie war Lindas beste Freundin.«
Lyle schrieb den Namen und BESTE FREUNDIN an die Tafel. »Was wissen wir über sie?«
Der Chief blinzelte. »Wissen über sie?«
»Chief, sie hat die Leiche entdeckt. Wir sollten sie zumindest als Verdächtige ausschließen.« Lyle klang sanft. »Eric, du hast ihre Aussage aufgenommen. Wie sieht’s aus?«
McCrea schlug seinen Notizblock auf. »Der Ehemann lehrt an der Skidmore. Eines ihrer Kinder lebt in Syracuse, zwei sind noch zu Hause. Sie arbeitet nicht. Sie behauptet, sie sei den ganzen Nachmittag allein zu Hause gewesen, bis ihre Tochter von der Schule kam. Sie hat das Mädchen zur Klavierstunde gebracht und ist dann zu den Van Alstynes weitergefahren.« Er geriet einen Moment ins Stocken, unterbrach die glatte Aufzählung der Fakten. »Sie sagte, außer der Katze hätte sie niemanden gesehen.«
»Der Katze? Wir haben keine Katze.«
»Die Tracey sagt, Mrs. Van Alstyne hätte sie vor einer Woche adoptiert.« Er sah MacAuley an. »Äh, ich habe die Katze hinter der Scheune gefunden. Wir haben sie ins Tierheim gebracht.«
Mark starrte an die Wand. Er wollte nicht zusehen, wie der Chief die Tatsache verdaute, nicht einmal gewusst zu haben, dass seine Frau eine
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