Wer morgens lacht
die Leichenhalle betraten, unser Vater und ich, unsere Mutter war mit Marie vorausgegangen und stand schon auf der anderen Seite des Sargs, der Tür gegenüber. Sie war fast ebenso weiß wie unsere Omi, fast ebenso tot, und sogar Marie, die neben ihr stand, sah ungewohnt ernst und bedrückt aus, ohne den üblichen herausfordernden Ausdruck im Gesicht. An der hinteren Wand drängten sich Trauergäste zusammen, die zur Beerdigung gekommen waren, entfernte Cousins und Cousinen von Omi, die von überall her angereist waren, Freunde und Nachbarn, die Frauen vom Kirchenchor, in dem Omi früher gesungen hatte. Es roch nach Blumen, besonders durchdringend war der Geruch nach Lilien, bis heute erinnern mich Lilien an Leichenhallen, ich würde mir nie einen Strauß Lilien ins Zimmer stellen, nur bei dem Gedanken an diesen Geruch wird mir schon übel. Unser Vater nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich her zu dem offenen Sarg. Ich wollte Omi nicht sehen, aber er schob mich näher hin, stellte sich hinter mich, legte mir seine großen Hände auf die Schultern und hielt mich unerbittlich fest.
Omi lag im Sarg, sie war Omi und doch nicht Omi, dünner, als sie es je gewesen war, blasser, und ihre Haare, die sie früher immer zu dem dünnen Zopf geflochten unter dem Kopftuch verborgen hatte, umrahmten jetzt ihr Gesicht und ließen sie ganz anders aussehen, fremd und irgendwie geisterhaft. Ihre Haut war gelblich-weiß, fast wie der Marmorfußboden der Leichenhalle, nur viel stumpfer. Sie sah nicht mehr aus wie vor drei Tagen, als sie gerade gestorben war, nicht mehr so friedlich, als wäre sie nur eingeschlafen, jetzt war alles anders. Sie war nicht mehr die Omi, mit der ich unter dem Schal gesessen hatte, sie war zu einer Fremden geworden, auch ihr Gesicht war kaum zu erkennen, der Tod hatte ihre Falten weggewischt, es sah viel glatter aus. Das weiße Kleid, das man ihr angezogen hatte, erinnerte mit dem Spitzeneinsatz und den Spitzen an Kragen und Ärmeln an ein Nachthemd, aber in Wirklichkeit hatte sie nie etwas anderes getragen als Flanellnachthemden in Pastelltönen und mit kleinem Blumenmuster. Nur die wundertätige Medaille und das Skapulier sahen noch genauso aus, wie sie bei der lebenden Omi ausgesehen hatten. Ihre Hände, über dem Bauch gefaltet, waren ebenso gelblich-blass wie ihr Gesicht, das schwarze Kreuz, das mit einem kleinen Sträußchen mit weißen Blumen zwischen ihren Fingern steckte, hob sich unnatürlich hart gegen ihre Haut ab.
Durch das Fenster in der Wand gegenüber fiel Sonne direkt auf mein Gesicht und blendete mich, ich presste die Augen zu und drehte den Kopf zur Seite. Unser Vater stand hinter mir, drückte meine Schultern fester. Verabschiede dich von deiner Oma, verlangte er, wünsche ihr, sie möge in Frieden ruhen. Ich schüttelte den Kopf.
Wenn man die Augen gegen die Sonne fest zupresst, sieht man rote Flecken mit zackigen Rändern, die roten Flecken bewegen sich, schieben sich in- und übereinander, leuchten auf und verblassen, wenn man die Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern rollen lässt. Rot, immer röter, rot lässt sich steigern, tot nicht, wer tot ist, ist tot.
Deine Oma ist jetzt im Himmel, sagte Friedel Stegmüller, Ottos Frau, die hinter uns getreten war.
Maries Stimme klang hell und sehr laut, als sie sagte, es gibt keinen Himmel, der Himmel ist nur was für Leute, die Angst vor dem Nichts haben.
Unser Vater ließ meine Schultern los, und plötzlich war ich allein in meiner sonnenverfärbten Dunkelheit, so allein, dass ich die Augen aufreißen musste. Das Licht schoss brennend in mich hinein, rote Flecken tanzten über die weiße Wand, über den Marmorfußboden und über Omis Gesicht, es sah aus, als würde ihre Haut in Flammen stehen. Ich fing an zu schreien.
Die Schreie kann ich heute noch hören, wenn ich die Augen zumache, und auch die Stimme unseres Vaters. Das Kind ist hysterisch, sagte er, und als ich sah, dass alle Leute zu mir herüberstarrten, schrie ich noch lauter.
Da legte aber schon Friedel Stegmüller ihre dicken Arme um mich. Ich drückte mein Gesicht an ihren Busen, spürte, wie weich er war, ihre Bluse war frisch gewaschen und roch nach Seife und Weichspüler. Friedel hielt mich fest und redete auf mich ein, es wurde dunkel um mich, ich musste nichts mehr sehen und hörte auf zu schreien, ich weinte nur noch. Schließlich war sie es, die anbot, mich mit dem Auto nach Hause zu bringen. Unterwegs redete sie weiter auf mich ein, aber ich hörte nicht
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