Wer morgens lacht
uns weg, irgendwohin, in ein anderes, unbekanntes Leben, und ich floh in das nur allzu Bekannte, in die Schule, in die Bücherei, in irgendwelche Beschäftigungen, gegen die niemand was haben konnte, sogar in die Gartenarbeit. Erst später, viel später, habe ich mich manchmal gefragt, ob ich vielleicht nur zu feige war, etwas anderes zu tun, sogar zu feige, um mir etwas anderes vorzustellen.
Ich habe nie verstanden, warum unsere Eltern ihr immer nachgaben, sie war abweisend, sie war kratzbürstig, ich fand sie undankbar, das Beste, was man über sie sagen konnte, war, dass sie sich nicht eingeschmeichelt hat, sie hat sich nie verstellt, sie war immer sie selbst, aber was heißt das schon? Und je ekliger sie sich verhielt, umso bemühter reagierten unsere Eltern. Nur bei der Sache mit dem Roller blieben sie hart.
Das Argument, das können wir uns nicht leisten, war allerdings richtig, wir hatten nicht viel Geld, vor allem, nachdem mein Vater seine Arbeit bei BMW verloren hatte, er war entlassen worden, freigestellt, wie es hieß, und wir lebten zu diesem Zeitpunkt schon seit über einem Jahr mehr oder weniger von dem, was unsere Mutter verdiente. Sie hatte seine Entlassung erstaunlich ruhig hingenommen, ganz ohne Panik, ohne Murren, ohne Vorwürfe, die kamen erst später, sodass ich schon damals das Gefühl hatte, es sei ihr vielleicht ganz recht gewesen. Ich glaube, sie genoss es, die Hauptverdienerin zu sein, endlich müssten alle zugeben, wie wichtig sie war, besonders er müsste das zugeben, endlich würde sie die Anerkennung bekommen, die ihr zustand. Sie hatte den Machtkampf mit unserem Vater gewonnen, einen Kampf, der nur selten offen ausbrach, aber immer zu spüren war, nun war endgültig klar, wer das Sagen in der Familie hatte, und tatsächlich veränderte sich der Ton zwischen ihr und ihm und zwischen ihnen und uns.
Als ich von der Schule nach Hause kam, merkte ich sofort, dass etwas passiert sein musste, unsere Mutter war nicht zur Arbeit gegangen, sie stand in der Küche, mit verheultem Gesicht, und hatte den Geschirrschrank ausgeräumt, etwas, was sie sonst selten tat, und wenn, dann mussten wir helfen, ich meine, putzen und sauber machen war eigentlich nicht ihr Ding, und nach Omis Tod hatte es immer wieder Diskussionen und Streit darüber gegeben, wer welche Aufgaben übernehmen sollte. Sie hatte die Teller auf dem Tisch aufgestapelt, neben Schüsseln, Tassen und Gläsern, und schrubbte die leeren Fächer sauber, sie rieb und wischte und wischte und rieb, und als sie mich sah, ließ sie den Lappen fallen und fing an zu weinen. Doktor Kugler ist oben bei ihr, sagte sie und fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase, sie hat irgendwelche Tabletten geschluckt, weiß der Teufel, wo sie die herhat, vielleicht noch von damals, als eure Oma alle möglichen Tabletten verschrieben bekommen hat.
Sie fing an, das Geschirr wieder einzuräumen, ein Teller rutschte ihr aus der Hand, fiel zu Boden und zerbrach mit einem lauten, hässlichen Geräusch, ich bückte mich, suchte die Scherben zusammen und warf sie in den Mülleimer. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, kraftlos, wie Omi früher, und sie sah ihr in diesem Moment sogar ähnlich. Warum hat sie uns das angetan, schluchzte sie, Anne, kannst du mir sagen, warum sie uns das angetan hat?
Muss sie ins Krankenhaus?, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern und sagte, Doktor Kugler ist noch oben bei ihr. Er hat gesagt, so schlimm ist es nicht. Ich habe sie gefunden, als ich ihr das Geburtstagspäckchen aus Bodenmais raufbringen wollte, da hat sie sich erbrochen und gar nicht mehr aufgehört. Ich habe gleich Doktor Kugler angerufen und er ist sofort gekommen. Die Tabletten waren noch nicht aufgelöst, man hat sie noch deutlich erkennen können. Die Schachtel lag auf dem Nachttisch, und Doktor Kugler hat gesagt, selbst wenn sie noch voll gewesen wäre, hätten die Tabletten nicht gereicht, ihr zu schaden.
Wo ist Papa?, fragte ich, und sie sagte, im Stall, bei seinen Hasen, und ich dachte, vielleicht will er bloß nicht, dass sie ihn weinen sieht, er will sich keine Blöße geben.
Unsere Mutter redete weiter mit dieser jammernden Stimme, die so gar nicht zu ihr passte, bis morgen ist sie wieder in Ordnung, hat der Doktor gesagt, junge Mädchen machen manchmal Dummheiten, und er hat mich gefragt, ob sie einen Freund hat, ob sie vielleicht schwanger ist. Nein, nicht meine Tochter, habe ich gesagt, das hätte ich doch gemerkt, sie geht doch noch in die Schule. Sie
Weitere Kostenlose Bücher