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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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schaute mich an, flehend, mit Angst in den Augen. Hat sie einen Freund, fragte sie, weißt du etwas? Aber sie erwartete wohl keine Antwort, sie hörte nicht auf zu sprechen, ein Hilferuf, hat Doktor Kugler gesagt, so etwas ist immer ein Hilferuf, vielleicht sollten wir uns mehr um sie kümmern. Kümmern! Was tu ich denn anderes, als mich zu kümmern? Wenn ich mich nicht kümmern würde, würde hier doch alles zusammenbrechen, ohne mich hätten wir nichts zu essen. Warum hat sie das bloß gemacht?
    Ich ließ sie stehen und ging hinauf. In Maries Zimmer roch es nach Erbrochenem, obwohl das Fenster weit offen stand, Doktor Kugler löste gerade einen Gummischlauch von ihrem Oberarm. Neben dem Nachttisch stand ein Eimer, ein leerer Eimer, wie ich sah, als ich zum Bett trat, unsere Mutter musste ihn gesäubert und sicherheitshalber wieder hingestellt haben. Marie machte die Augen auf, ließ einen gleichgültigen, leeren Blick über mich gleiten, doch dann verzog sich ihr Gesicht, sie flüsterte etwas, was ich nicht verstand, ich beugte mich zu ihr hinunter, aber da hatte sie die Augen schon wieder geschlossen.
    Sie ist jetzt müde, sie wird schlafen, sagte Doktor Kugler, und morgen früh geht es ihr wieder besser, ganz bestimmt. Er tätschelte Maries Schulter, und als sie nicht reagierte, griff er nach ihrem Handgelenk, fühlte ihr noch einmal den Puls, packte dann seine Tasche und ging die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten, die Küchentür wurde geöffnet und unsere Mutter sagte etwas, dann ging die Tür wieder zu. Ich setzte mich auf Maries Schreibtischstuhl und betrachtete ihr Gesicht, das sehr blass war, kein Wunder nach dieser Kotzerei. Sie hat’s getan, dachte ich erstaunt, sie hat sich getraut, und plötzlich fühlte ich mich ihr ganz nahe. Eine Art Hochgefühl ergriff mich, das ich schon lange nicht mehr gespürt hatte, sie hat’s getan, sie hat sich getraut. Und dann dachte ich, warum allein? Warum hat sie mich nicht mitgenommen, sie hätte mich mitnehmen sollen. In diesem Moment habe ich sie, glaube ich, geliebt, meine Schwester, und wenn es bei uns üblich gewesen wäre, hätte ich sie wohl gestreichelt.
    Da machte sie die Augen auf und sagte, geh raus, ich will schlafen.
    Soll ich den Vorhang zumachen?, fragte ich.
    Es kam keine Antwort. Ich schloss das Fenster, zog den Vorhang vor und ging hinunter in die Küche.
    Unsere Mutter saß am Tisch, ihr gegenüber hatte Doktor Kugler Platz genommen. Unsere Mutter weinte nicht mehr, das Geschirr war eingeräumt, der Wischlappen hing ordentlich über dem Spülbeckenrand und es roch noch nach Putzmittel und Essigreiniger. Ich verstehe es nicht, sagte sie gerade, was soll ich machen, ich verstehe einfach nicht, was mit ihr los ist, ich versteh’s nicht.
    Das war kein Selbstmordversuch, sagte Doktor Kugler, es waren nur Baldriantabletten. Aber es war eine Demonstration, ein Hilferuf, den man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Er legte seine Hand auf die meiner Mutter, als er ernst und eindringlich fortfuhr, wir sollten sie zur Vorsicht in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, da weiß man, was in solchen Fällen zu tun ist, da kann man es richtig einordnen.
    Unsere Mutter schüttelte nur den Kopf, nein, auf keinen Fall, sagte sie, meine Tochter kommt nicht in die Psychiatrie, meine Tochter ist doch nicht verrückt. Und ich fühlte mich auf einmal steif, kalt und leer und ballte die Hände, am liebsten hätte ich Doktor Kugler ins Gesicht geschlagen, in dieses ernsthafte, besorgte Gesicht mit den Hängebacken, oder auch ins Gesicht unserer Mutter, die offenbar überzeugt war, dass alles nur Maries Problem war, als hätte sie selbst nichts damit zu tun, gar nichts.
    Denken Sie noch einmal über eine Klinik nach, sagte Doktor Kugler, zumindest über eine psychotherapeutische Behandlung.
    Darüber brauche ich nicht nachzudenken, sagte unsere Mutter, das kommt nicht infrage.
    Er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und sagte, trotzdem sollten Sie es ernst nehmen. Ich komme morgen wieder vorbei, und wenn etwas ist, können Sie mich jederzeit anrufen. Diese jungen Mädchen … Seine Stimme erstarb, als wüsste er nicht, was er noch sagen sollte, als wäre »diese jungen Mädchen« an sich schon eine Erklärung für alles. Dann ging er und unsere Mutter begleitete ihn noch zur Tür.
    Später saßen sie zusammen am Tisch, unser Vater und unsere Mutter, beide schauten aneinander vorbei, ratlos, noch nicht einmal in dieser Situation wirklich miteinander

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