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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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immer gleichen Bildern.
    Es ist an einem Sommertag passiert, an einem schönen Sommertag, fange ich zögernd an zu erzählen, ohne Ricki dabei anzuschauen. Es war der Tag des Terroranschlags in London, der aber nichts mit Marie zu tun hatte, und auch deshalb habe ich diesen Tag nie vergessen. Aber ich will dir ja von Marie erzählen, von Marie und ihrer Schwester Anne. Ich sehe sie genau vor mir, diese Anne, die ich damals war, fünfzehn Jahre alt, ein bisschen staksig, oft mürrisch, eher zurückhaltend und introvertiert, um nicht zu sagen menschenscheu, aber an jenem Tag für ihre Verhältnisse auffallend gut gelaunt. Ich weiß sogar noch, was diese Anne von damals dachte, falls ich die Ereignisse nicht nachträglich anders interpretiert habe, so ganz abwegig wäre das ja wirklich nicht.
    Ich sehe, wie die Anne, die ich einmal war, das Gartentor aufmacht, hineingeht und es wieder schließt. Sie hat einen rundum angenehmen Tag hinter sich, das sieht man ihr an, sie hat morgens eine Mathearbeit zurückbekommen, die letzte vor den Zeugnissen, und die Arbeit ist sogar noch besser ausgefallen, als sie erwartet hat, und nachmittags im Sport sind ihr beim Basketball ein paar überraschend gute Würfe gelungen, der Lehrer, ein eher strenger Typ, hat anerkennend genickt, sein Notizbuch gezückt und etwas hineingeschrieben. Und auch sonst ist es ein erfreulicher Tag gewesen. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn, dass es vielleicht anders weitergehen könnte, und anfangs tut es das ja auch nicht, anfangs ist alles in Ordnung.
    Es muss fünf oder sechs Uhr sein, die Sonne steht schon ziemlich tief, ihre Strahlen fallen schräg auf die Johannisbeersträucher hinten im Garten, und zwischen den dunklen Blättern sieht sie es rot aufleuchten. Sie lässt ihre Schultasche neben dem Haus zu Boden fallen und läuft durch den Garten auf die Sträucher zu.
    Der Rasen ist tadellos gepflegt, kein Wunder, ihr Vater braucht das Gras für seine Hasen, frisch gemäht als Futter und getrocknet als Heu, und auch das kleine Kartoffelfeld ist gut in Schuss, da schlägt wohl sein bäuerliches Erbe durch, wie ihre Mutter immer sagt, er hackt die Kartoffeln regelmäßig, die Pflanzen sehen gesund aus und es sind sogar schon Blütenansätze zu erkennen. Nur mit den Gemüsebeeten scheint er es nicht zu haben, er legt sie zwar im Frühjahr an, vielleicht aus Gewohnheit oder aus Pflichtgefühl, doch später kümmert er sich kaum mehr um sie und lässt sie verwahrlosen, sie sehen jedenfalls ganz anders aus als früher. Bei Omi waren die Gemüsebeete immer ordentlich und gepflegt, denkt Anne, Karotten, Lauch, Zwiebeln, Kohlrabi, Radieschen, Bohnen, Erbsen, Kopfsalat, Tomaten, Gurken, Mangold und Kohlköpfe, die sie immer Haplich Kraut genannt hat, hol mir schnell mal zwei kleine Haplich Kraut aus dem Garten.
    Anne bückt sich, zieht im Vorbeigehen ein paar Büschel Unkraut aus dem Karottenbeet und legt sie ordentlich an den Wegrand, und nach ein paar Schritten steht sie vor den Johannisbeersträuchern, betrachtet sie und lächelt. Ich weiß, was sie jetzt denkt, ich kenne dieses Lächeln, dieses zärtliche und zugleich wehmütige Lächeln, das hat sie immer, wenn sie an ihre Großmutter denkt, die nun schon seit bald fünf Jahren tot ist, und ich weiß auch, welches Bild sie jetzt vor Augen hat, sie sieht sich selbst vor den Sträuchern knien und Beerlich pflücken, immer nur von den unteren Zweigen, um alle drei Sträucher herum, während ihre Großmutter von oben pflückt, sie konnte sich nicht mehr gut bücken und knien schon gar nicht, auf dem feuchten, kalten Boden hätten ihre Rheumaknie unerträglich wehgetan. Wie geht es dir heute, Omi? Wehtig . Was machen deine Hände, deine Beine? Wehtig, immer nur wehtig.
    Sie bückt sich, pflückt ein paar Beeren, streift sie vom Stängel und schiebt sie in den Mund, sie schmecken säuerlich, es zieht ihr die Schleimhäute zusammen.
    Grüß dich, Anne, sagt eine Frau aus dem Nachbargarten, sie lehnt sich über den Zaun und winkt ihr freundlich zu. Die grüne Gartenschürze spannt sich über ihrem Bauch, sie, Friedel Stegmüller, war nie sehr schlank und in den letzten Jahren hat sie noch zugenommen. Sie hält eine Gartenschere in der Hand und auf einmal bemerkt Anne die grauen Strähnen in ihren blonden Haaren, sie sind ihr vorher nie aufgefallen, jetzt glitzern sie in der Sonne wie feines Lametta.
    Die Frau macht eine Kopfbewegung zu den roten Beeren hin und sagt, sie sind jetzt wirklich reif, sie müssten

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