Wer morgens lacht
geerntet werden, ich habe gestern schon Gelee gekocht, fünfzehn Gläser, willst du eins?
Anne schüttelt den Kopf, nein danke, Friedel, das ist lieb von dir, aber ich glaube, ich werde am Wochenende auch Gelee kochen, und dann haben wir wieder mehr, als wir brauchen. Wie geht es Otto?
Besser, sagt Friedel, nächste Woche kommt er aus der Reha wieder nach Hause, der Arzt hat gesagt, er hat Glück gehabt, es war ein Schuss vor den Bug, hat er gesagt, jetzt muss er sein Leben umstellen, mehr Bewegung, weniger essen und auf jeden Fall weniger trinken, aber dafür werde ich sorgen, das habe ich mir fest vorgenommen, und er hat versprochen, auf mich zu hören. Morgen fahre ich wieder zu ihm.
Sag ihm einen schönen Gruß und gute Besserung, sagt Anne, ich muss jetzt rein, ich habe noch Hausaufgaben zu machen.
Die beiden winken sich zum Abschied zu.
Auch als sie zurückgeht und im Vorbeigehen ihre Schultasche aufhebt, hat Anne keine Vorahnung, sie ist noch immer gut gelaunt. Sie betritt das Haus, ruft, hallo, ich bin da, und geht in ihr Zimmer. Sie setzt sich an den Tisch und nimmt ihr Biologiebuch heraus, heute Morgen, im Unterricht, hat sie sich endgültig entschieden, sie wird in der Kollegstufe Biologie als Leistungskurs nehmen, vermutlich wird sie später sogar Biologie studieren, es ist das Fach, das sie am meisten interessiert, aber Lehrerin wird sie nicht werden, sie wird in die Forschung gehen. Sie lächelt zufrieden, als sie sich in Gedanken hinter einem Mikroskop stehen sieht, in einem weißen Kittel in einem hellen, sauberen, gut ausgestatteten Labor.
Anne, ruft ihre Mutter aus der Küche, komm, hilf mir beim Abendessen.
Sie klappt widerwillig das Buch zu, steht auf und geht hinüber. Ich muss noch Aufgaben machen, sagt sie, ein Argument, dass sich oft als hilfreich erwiesen hat, doch heute nutzt es nichts, ihre Mutter hat schlechte Laune, sie macht eine abfällige Handbewegung und sagt, du kannst mir ruhig mal helfen, schließlich arbeite ich ja auch die ganze Woche. Und Marie hat sich schon seit drei Tagen nicht mehr blicken lassen, hast du eine Ahnung, wo sie steckt?
Anne zuckt mit den Schultern, das ist eine rhetorische Frage, wer weiß schon, wo Marie steckt, und was ihre Mutter sonst noch sagt, hat sie schon so oft gehört, es geht ihr zum einen Ohr rein und zum anderen raus, sie kennt sowieso jedes Wort, wie sie alles hier kennt, diese Küche, das Haus, den Garten, der allmählich herunterkommt, und sie nimmt sich vor, am Wochenende die Johannisbeeren zu pflücken und Gelee zu kochen, vielleicht aus Treue zu ihrer Großmutter, die nie zugelassen hätte, dass die Beerlich am Strauch vergammeln. Im ersten Jahr nach ihrem Tod hat sie ständig an sie gedacht, mindestens einmal am Tag, doch im Lauf der Zeit ist das weniger geworden, jetzt vergisst sie sie manchmal für Tage oder gar Wochen, bis sie irgendetwas hört oder sieht, zum Beispiel die roten Johannisbeeren, dann ist die Erinnerung da und die vertraute Wehmut steigt in ihr auf.
Die Johannisbeeren sind reif, sagt sie, es wäre wirklich eine Sünde, sie nicht zu pflücken, Omi würde sich im Grab umdrehen.
Du und deine Omi, sagt die Mutter automatisch, mach schon mal den Salat, wenn ich nur wüsste, wo Marie steckt, ich mache mir langsam Sorgen, ob ihr nichts passiert ist, dieses Mädchen macht mich noch ganz verrückt. Sie kann doch nicht einfach drei Tage wegbleiben und bei ihrem Handy ist immer nur die Mailbox dran.
Marie, immer nur Marie, denkt Anne, weiß der Teufel, wo Marie steckt. Sie kommt und geht, wie es ihr passt. Jetzt ist sie allerdings nicht erst drei Tage weg, sondern schon vier, um genau zu sein, aber so genau will es hier keiner wissen. Wissen könnte Fragen nach sich ziehen, über das Wohin und Warum und welche Folgen möglicherweise zu erwarten sind. Wissen ist Macht, haben sie letztes Jahr immer wieder gesagt, als Marie die Schule geschmissen hat, na ja, geschmissen, sie hat einfach so lange geschwänzt, bis die Schule ihrerseits die Konsequenzen gezogen hat. Wissen ist Macht, haben sie wie eine Beschwörungsformel wiederholt, aber Marie hat nicht hingehört, vielleicht hat sie ja auch das Verlogene dieses Arguments gespürt, denn in Wirklichkeit lehnen sie Wissen ab, Wissen bedeutet Gefahr, Bedrohung, Unsicherheit. Nichtwissen ist das Gegenteil, Nichtwissen ist die Sicherheit der ewig gleichen Tagesabläufe, der immer wieder ausgesprochenen und unausgesprochenen Sätze, der täglichen Wiederholungen in Gedanken, Worten
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