Wer morgens lacht
gab auch zwei in Europa, einmal 1995 in einem Pariser S-Bahn-Zug und 1984 im Schnellzug Neapel-Mailand. Bei den Explosionen in London gehe man inzwischen von islamistischen Attentätern aus.
Kein einziges Mal verspricht er sich, kein Stolpern, kein Stocken, kein unterdrücktes Hüsteln, ein Profi, sagt sich Anne neidisch und denkt daran, wie oft sie selbst stottert und äh sagt, wenn sie ein Referat halten muss, sie sieht sich, wie sie unbeholfen und verkrampft vor der Klasse steht, meint zu spüren, wie jeder Quadratzentimeter ihrer Gesichtshaut glüht und zugleich zu zerfließen droht, und sofort ruft sie sich zur Ordnung, in London ist eine Katastrophe passiert, so viele Tote und Verletzte, und du hast nichts Besseres zu tun, als deine eigene Unzulänglichkeit zu beklagen.
Ist der Salat fertig?, fragt ihre Mutter, und Anne denkt, ja, ich habe den Salat gewaschen, als es um die Explosionen in den U-Bahnen ging, und bei der Bombe im Bus habe ich mit tränenden Augen die Zwiebeln geschnitten, bei Tony Blairs Ansprache habe ich den Schnittlauch für die Salatsoße gehackt und bei den Überlegungen zu den Attentätern Öl und Essig mit Salz und einer Prise Zucker gemischt.
Anne holt Teller und Besteck aus dem Schrank, ihre Mutter stellt die Schüssel mit den Kartoffeln auf den Tisch, den Salat und die Pfanne mit den Eiern. Das Essen ist fertig, ruft sie laut, um den Fernseher zu übertönen, der Vater kommt in die Küche, stellt das Bierglas neben seinen Teller und setzt sich. In London hat es Terroranschläge gegeben, sagt er, mit vielen Toten und Hunderten von Verletzten.
Aber die Mutter schiebt das Weltgeschehen aus dem Haus, aus der Küche, sie will beim Essen nichts davon hören, stattdessen redet sie über die Bank, über den harten Tag, den sie gehabt hat, aber niemand hört zu, bis sie sagt, jetzt sind es schon drei Tage, sollten wir nicht zur Polizei gehen? Obwohl sie nicht lauter gesprochen hat als vorher, als es um dies oder jenes ging, wird sie gehört, diesmal schon, diesmal geht es um Marie.
Der Vater hebt das Bierglas an den Mund, damit er nicht, sofort antworten muss, stellt es wieder hin, wischt sich den Schaum von den Lippen und sagt, nein, du wirst ihr doch nicht die Polizei auf den Hals hetzen wollen.
Anne zieht die Schultern hoch, ihr ist übel, sie weiß nicht, warum, vielleicht hat die Mutter die Eier zu fett gebraten, vielleicht schlagen ihr auch die vielen Toten und Verletzten auf den Magen. Der Sprecher schickt mit seiner ruhigen Stimme die Wörter eines Politikers in die Küche, der den Anschlag in London kommentiert, wir Deutsche … fängt er an. Seine Sätze landen in einem deutschen Wohnzimmer, dringen durch die offene Tür in eine deutsche Küche, denkt Anne, die deutsche Frau isst Kartoffeln mit Rührei, der deutsche Mann trinkt deutsches Bier, ein Begriff in der ganzen Welt, Bier, München, Hofbräuhaus, Oktoberfest. Und London ist sehr weit weg. Vor allem hat London nichts mit Marie zu tun.
Ihr Vater stellt sein Glas ab. Nein, sagt er noch einmal, hast du versucht, sie anzurufen?
Da ist immer nur ihre Mailbox dran.
Sie will nicht mit uns reden, sagt der Vater, seine Stimme ist schwerer als die des Sprechers, der jetzt verkündet, dass die Bundesregierung den feigen Anschlag verurteile, und Anne denkt, die können leicht verurteilen, wenn die Leute woanders sterben und nicht hier, bei uns, obwohl man die Gefahr auch für uns nicht ausschließen könne, sagt der Sprecher, man habe vorsichtshalber die Sicherheitsbestimmungen verschärft. Anne hört nicht mehr hin, sie denkt an die Toten und Verletzten und schiebt ihren noch halb vollen Teller zurück.
Du isst zu wenig, sagt die Mutter, du wirst immer dünner, du musst mehr essen, und dann schaut sie den Vater an, wir sollten vielleicht doch zur Polizei gehen.
Nein, sagt der Vater, diesmal laut und ungewohnt entschieden, und seine Entschiedenheit verblüfft die Mutter so sehr, dass sie den Satz hinunterschluckt, den sie offenbar hatte sagen wollen, nur an den scharfen Falten um ihren Mund und an den zusammengepressten Lippen wird ihr Widerspruch sichtbar.
Das Unglück schleicht sich manchmal so unauffällig heran, dass man es gar nicht bemerkt, es kommt einem alles ganz normal vor, und man denkt sich nichts, wenn das Telefon im Wohnzimmer klingelt, vielleicht ist es ja ein Anruf aus Bodenmais, wie geht es euch, wann kommt ihr mal wieder, Oma und Opa fragen dauernd nach euch, oder es ist ein Skatfreund des Vaters, der eine neue
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