Wer morgens lacht
liebsten aufgestanden und weggelaufen wäre.
Ich bin ein vorsichtiger Mensch, bin es immer gewesen, ich weiß, dass man nicht vorsichtig genug sein kann. Schon in der Schule habe ich die Mädchen verachtet, die so vertraulich miteinander tuschelten, als wären sie unzertrennlich, ein Herz und eine Seele, und zwei, drei Wochen später standen sie dann oft einander gegenüber, als wollte eine der anderen die Augen auskratzen, und ich hatte innerlich gefeixt und gedacht, selber schuld, wären sie eben ein bisschen vorsichtiger gewesen.
Ricki lächelt ihr Grübchenlächeln, als ich eine zweite Praline nehme, die aber, genau wie die erste, viel zu schnell in meinem Mund zerschmilzt, schneller, als mir lieb sein kann.
Aus dem iPod kommt ein Lied, das ich nur allzu gut kenne, ich höre eine Weile zu.
Und ich kämpf mich durch die Nacht
Bin unter Träumen wieder aufgewacht
Ich krieg dich nich’ aus meinem Kopf
und dabei muss ich doch.
Ricki hat mich beobachtet, Silbermond, sagt sie, steht auf und stellt das Gerät leiser und ich verfluche mich innerlich, los, Anne, sag doch was, sonst hält sie dich noch für eine dumme Gans, also sag endlich was.
Aber was? Was kann ich sagen, was darf ich sagen, man sagt so schnell etwas Falsches, Wörter lassen sich nicht zurücknehmen, Wörter sollen helfen, nicht schaden, sie sollen leicht wie Seifenblasen durch die Luft fliegen, sie sollen die Menschen erfreuen und so leise zerplatzen, dass sie den Ohren nicht wehtun.
Nach ihrem Verschwinden hatte ich ständig meine Schwester im Kopf, fange ich zögernd an, kannst du dir vorstellen, wie das ist? Sie hat sich überall eingemischt, sie hat zu allem und jedem ihre Kommentare abgegeben, und besonders freundlich waren die nicht, doch wenn sie mal ein paar Tage lang nichts gesagt hat, wurde ich unruhig und fragte mich, ob ihr etwas passiert war. Aber sie blieb nie lange weg und dann ging es wieder von vorn los. Wenn meine Mutter mir zum Beispiel Vorhaltungen machte, weil ich ihren Mantel nicht aus der Reinigung geholt hatte, lachte Marie höhnisch und sagte, da siehst du’s, immer nur Geschimpfe und Gemecker, das hält doch kein Mensch aus, du bist selber schuld, wenn du es dir gefallen lässt. Bei solchen Worten hatte ich immer das Gefühl, meine Mutter verteidigen zu müssen, und sagte deshalb, sie hat doch recht, sie arbeitet schließlich den ganzen Tag, und ich habe wirklich vergessen, ihren Mantel abzuholen. Und warum hat sie ihn nach der Arbeit nicht selbst abgeholt?, fragte Marie, als hätte ich mich das nicht auch schon gefragt, sag ich doch, du bist ein Schaf und lässt dir alles gefallen.
Das warf sie mir auch vor, wenn ich mich vor der Kasse im Supermarkt abdrängen ließ oder wenn mich eine Nachbarin bat, ganz schnell etwas für sie einzukaufen oder ihr einen Sack Kartoffeln aus dem Garten in den Keller zu tragen, tu mir den Gefallen, Anne, ich hab’s mit dem Rücken, oder wenn unser Vater mich zur Tankstelle schickte, um eine Schachtel Zigaretten zu holen.
Bevor Marie sich in meinem Kopf einnistete, war mir gar nicht aufgefallen, wie oft jemand etwas von mir verlangte, vermutlich hatte sie recht und ich war wirklich ein Schaf, doch dann, mit ihr, habe ich mich langsam verändert, nicht dass ich streitsüchtig wurde, das nun wirklich nicht, aber ich widersprach ab und zu und wehrte mich häufiger als früher, rückblickend könnte man sagen, ich hätte von ihrem Verschwinden profitiert, aber auch da weiß man natürlich nicht, ob ich mich nicht sowieso verändert hätte, einfach weil ich älter wurde.
Es ist schon auffallend, wie sehr du alles rationalisierst, sagt Ricki.
Fast hätte ich laut gelacht. Das hat Marie auch mal zu mir gesagt, sage ich, da hat unsere Großmutter noch gelebt, aber sie war schon nach unten gezogen, in unser früheres Zimmer, soweit ich mich erinnere, ging es um ein Fernsehprogramm, darum haben sie oft gestritten. Omi wollte unbedingt eine Sendung mit Volksmusik sehen und Marie etwas anderes, was, habe ich vergessen, aber Omi hat die Fernbedienung festgehalten und nicht mehr hergegeben, obwohl Marie einen Wutanfall bekommen und sie angeschrien hat. Ich habe später versucht, sie zu beruhigen, und habe gesagt, Omi hat nie etwas anderes gesehen, nie etwas anderes gehört, und sie ist alt und du bist jung, du kannst später noch alles sehen, was du willst, warum verzichtest du nicht einfach? Du kannst doch viel leichter nachgeben als sie. Da hat sie mich verächtlich angeschaut und gesagt, du
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