Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
versenkte er den Speer im Unterleib der Frau. Ich fuhr zurück und sah mit Grauen zu, wie er die letzten Blutreste aus ihr herausholte. In diesem Moment begann ich ernsthaft über eine Einäscherung nachzudenken.
Ein paar Minuten später zog er den Trokar wieder heraus und steckte einen Plastikstöpsel in das Loch in ihrem Unterleib. Dann holte er einen riesigen Behälter mit Feuchtigkeitscreme und einen großen Pinsel und begann, ihr Gesicht und ihre Hände einzucremen, um die Haut vor dem Austrocknen zu schützen.
»Ich finde, sie ist echt hübsch geworden«, sagte er mit unverhohlenem Stolz. »Und Sie haben sich auch wacker geschlagen. Sie könnten Leichenbestatterin werden.«
Ich lächelte schwach. An diesem Abend rief Chris an und erzählte mir eine lustige Geschichte vom Büro. Ich war dankbar, dass er mich von den Ereignissen des Tages ablenkte. Kurz bevor wir auflegten, fragte ich: »Was meinst du, was passiert, wenn wir sterben?«
Er schwieg einen Moment. »Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie ich vielleicht neun Jahre alt war und auf dem Rücksitz im Auto meiner Eltern saß, während wir irgendwo in Maine über Land fuhren«, erzählte er. »Das war die Phase, in der ich wirklich Angst vorm Sterben hatte. Ich sah aus dem Fenster auf die Bäume, die an uns vorüberzogen. Da es so dunkel war, konnte man nur die vor und neben dem Auto sehen. Aber sobald sie aus dem Scheinwerferlicht verschwanden und an meinem Fenster vorbeigeglitten waren, waren sie auf einmal weg, und ich konnte sie überhaupt nicht mehr sehen. Ich weiß noch, dass ich mir damals dachte, so muss der Tod sein. Auf einmal bist du weg, und nichts ist mehr da.«
Am nächsten Morgen ging es mir schon besser, denn ich wusste, dass ich das Schlimmste hinter mir hatte. Als ich im Bestattungsinstitut ankam, hörte ich Stimmen aus dem Raum, in dem die Toten hergerichtet wurden, und ging hinein. Das Zimmer war voll mit Leuten. Die drei Toten auf den Stahltischen und dazu Sean, Lucas und ein gutaussehender Typ, der aussah wie ein Italiener und den Körperbau eines Hydranten hatte.
»Noelle, das ist mein Partner Antonio«, sagte Sean. »Wir betreiben in Columbus zusammen ein Bestattungsinstitut.«
»Ich bin nicht dein Partner «, gab Antonio zurück. »Ich bin doch nicht schwul, wie du.«
»Schwul? Ich?«, lachte Sean. »Mit einer Frau und sieben Kindern?«
»Alles bloß Überkompensation«, feixte Antonio.
»Wie geht es übrigens mit deiner Scheidung voran?«, erkundigte sich Sean. Er drehte sich kurz zu mir um und zwinkerte mir zu.
Antonios Grinsen verschwand. »Lorraine und ich gehen zur Paarberatung «, sagte er beleidigt. »Das hat mit Scheidung nichts zu tun.«
Während sie sich weiter kabbelten, betrachtete ich die Leiche, an der Sean gerade arbeitete. Der Tote war extrem dünn, hatte braune Haare und einen Bart, der das hagere Gesicht einrahmte.
»Äh … bilde ich mir das ein, oder sieht der Typ wirklich aus wie Abraham Lincoln?«, fragte ich.
»Absolut!«, rief Lucas vom anderen Ende des Raumes. »Genau das hab ich auch gesagt, als der reinkam.«
»Sind diese Leichen alle schon einbalsamiert?«, fragte ich Sean.
»Ja. Jetzt richten wir sie nur noch ein bisschen her, Make-up und so.«
»Und so« bedeutete unter anderem, dass eine verstörend lange Nadel in der Augenhöhle des Toten versenkt wurde, um ein rosa Gel zu injizieren.
»Wenn die Leute sterben, verändert sich sofort ihr Gesicht«, erklärte Sean. »Es fällt ein. Wir müssen das Gewebe wieder aufpolstern.« Er stach die Nadel seitlich ins Gesicht, und schon hoben sich die eingefallenen Wangen wie ein Hefeteig. Am Ende sah er fast … lebendig aus. Ich musste an die ausgestopften Vögel in Springwood denken, die Franklin als Junge geschossen hatte und die so präpariert worden waren, dass es aussah, als würden sie fliegen. Der Anblick war ein bisschen verstörend, aber im Grunde ging es mir gut.
Justin tauchte auf. »Das wird eine Beerdigung mit offener Aufbahrung. Hier sind die Kleider, die er für den Gottesdienst anhaben wollte.« Er reichte mir eine zusammengefaltete Khakihose und ein orange-braunes Shirt.
»Ist das ein Football-Trikot von den Cleveland Browns?«, fragte ich ungläubig.
Sean schüttelte den Kopf. »Schon bizarr, was sich die Leute so wünschen.«
Ich half Sean, Abes kalte, steife Gliedmaßen in die Kleider zu manövrieren. »Wissen Sie, ob er sein Shirt lieber reingesteckt oder über der Hose getragen hat?«, fragte ich. »Das macht bei
Weitere Kostenlose Bücher