Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
abstieß – der Gedanke, das Blut der eigenen Großmutter aus ihrem Körper herausfließen zu lassen, oder einfach, sie nackt zu sehen.
»Sie hat mir die Erlaubnis gegeben. Vorher «, verteidigte er sich. »Sie wusste, wie gern ich das mache.« Sein Telefon klingelte. »Oh, hallo Terry. … Soll ich gleich hinfahren? … Okay … Ciao.«
Lucas legte auf und griff sich die Clip-Krawatte vom Armaturenbrett. »Wir müssen jemanden abholen.«
Am örtlichen Hospiz blickten die Besucher kurz auf und senkten sofort wieder den Blick, als wir mit unserem unheilverkündenden Fahrzeug über den Parkplatz fuhren. Lucas lenkte den Wagen zur Rückseite des Gebäudes und fuhr dann im Rückwärtsgang bis direkt vor die Hintertür. Dann befestigte er den Schlips vor dem Rückspiegel.
»Sie müssen wohl im Auto warten«, entschuldigte er sich. »Könnte sein, dass Familienmitglieder da sind, die es nicht so toll fänden, wenn jemand dabeisteht und zuguckt.«
Während ich auf ihn wartete, holte ich die Broschüre Den Tod verarbeiten hervor, die ich im Bestattungsinstitut eingesteckt hatte. Die Einleitung erklärte, dass der Tod früher einmal Teil des Familienlebens gewesen war. Die Leute starben zu Hause im Kreise ihrer Lieben. Erwachsene und Kinder erlebten den Tod zusammen, trauerten zusammen und trösteten einander. Heutzutage ist der Tod einsamer. Die meisten sterben in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Ihre Lieben haben nicht unbedingt die Möglichkeit, bei ihnen zu sein und die letzten Momente ihres Lebens mit ihnen zu teilen. Das Leben ist vom Tod isoliert worden, und so hat sich der Tod in etwas Mysteriöses verwandelt, wovor man sich fürchtet.
Während ich das las, musste ich an meine Großeltern denken, die alle vier innerhalb von anderthalb Jahren starben, während ich aufs College ging. Jeder Anruf in meinem Studentenwohnheim bedeutete ein Last-Minute-Flug nach Texas, und auf dem Rückflug trug ich manchmal immer noch mein schwarzes Kleid. Bei der Beerdigung selbst starrte ich auf den Sarg und versuchte, mir die Tatsache bewusst zu machen, dass dieser Mensch jetzt tot war. Aber irgendwie blieben diese Erlebnisse immer seltsam unwirklich für mich.
Lucas kam zehn Minuten später mit der Bahre zurück. Der Tote war mit einer grünen Filzdecke zugedeckt, auf die der Name des Bestattungsinstituts gestickt war. Auf der Decke lag eine sauber zusammengelegte Brille.
Als meine Großmutter mütterlicherseits starb, versammelten sich für das Totenmahl alle in ihrem Haus. Als ich am Arbeitszimmer meines Großvaters vorbeiging, sah ich den leeren Rollstuhl meiner Großmutter in der Mitte des Zimmers stehen. Irgendwie rührte mich dieser leere Rollstuhl mehr als der Sarg mit seinem Inhalt. Als ich jetzt auf diese verlorene Brille blickte, musste ich wieder an den Rollstuhl denken und spürte einen Kloß im Hals.
»Hospize sind einfacher«, erklärte Lucas munter, als wir wieder fuhren. »Schwierig ist es immer, wenn sie zu Hause sterben und die Familie zusieht, wie der Tote das Haus zum letzten Mal verlässt.« Als wir an ein Stoppschild kamen, trat er ein bisschen zu schwungvoll auf die Bremse, und die Bahre rasselte wieder von hinten gegen den Fahrersitz.
Er drehte sich um und warf dem Toten einen mahnenden Blick zu. »Komm, jetzt entspann dich mal da hinten.«
Nach der Arbeit besorgte ich mir eine Portion Fast Food, aber ich wusste, dass ich erst würde essen können, wenn ich mir die Hände dreimal gewaschen hatte. Als ich wieder im Motel war, duschte ich erst einmal, um die Asche abzuspülen, die sich im Krematorium auf mir abgelagert haben konnte, und trocknete mich mit den kleinen, harten Handtüchern ab. Ich zog Boxershorts von Matt und ein Nachthemd an und ging mit ein paar Büchern von Eleanor ins Bett. Ich wollte erfahren, wie der Tod ihr Leben beeinflusst hatte. Franklin starb sehr plötzlich im Alter von dreiundsechzig Jahren, allerdings hatten sich seine Ärzte schon länger Sorgen um seine Gesundheit gemacht. Als er für seine vierte Amtszeit kandidierte, lag sein Blutdruck bei 240 zu 130. Ein Kardiologe wurde konsultiert, und der zwang Franklin, seinen Zigarettenkonsum von zwanzig bis dreißig auf fünf bis sechs pro Tag zu reduzieren. Am 12. April 1945 wurde Eleanor auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung angerufen, und man bat sie, ins Weiße Haus zurückzukommen.
»Ich wusste, dass etwas Furchtbares passiert sein musste«, sagte sie später. Man teilte ihr mit, dass Franklin in seinem Winterquartier in
Weitere Kostenlose Bücher