Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
mich vom Jetlag erholen sollte, bevor ich den Berg in Angriff nahm. Und wenn ich sage, dass ich im Hotel bleiben sollte, war das ganz wörtlich zu verstehen. »Von Sightseeing in Arusha wird entschieden abgeraten«, hieß es auf allen Websites zum Kilimandscharo. Bei Wikipedia hieß es zu Arusha: Immer öfter werden Touristen mit vorgehaltener Machete bedroht, auch tagsüber . (»Oh Gott, das ist ja so authentisch!«, hatte Jessica gemeint.)
Es war erst 19.30 Uhr, aber es kam mir viel später vor, weil es keine Straßenlaternen gab. In meinem Shuttle saßen noch mehr Leute, die in Arusha übernachten wollten, die meisten von ihnen waren unterwegs zu Safaris. Die Szenerie sah an jedem Hotel gleich aus. Jedes hatte ein Tor, das von einem respekteinflößenden Hund bewacht wurde, der uns wütend anknurrte und so an seiner Leine zerrte, dass er nur noch auf den Hinterbeinen stand. Gehalten wurde die Leine von einem jungen Mann in Tarnuniform. Dann trat ein anderer uniformierter Wächter mit einem Gewehr über der Schulter hinzu, der die Zugangsberechtigung des Fahrers überprüfte, das Tor öffnete und es sofort wieder hinter uns schloss. Die Anwesenheit der Wachen war ebenso beruhigend wie beunruhigend. Ich fühlte mich sicher, weil sie da waren, aber andererseits – warum waren sie überhaupt nötig? Mein Hotel hatte eine unüberdachte Lobby mit schmutzigem Fliesenboden, die völlig leer war, abgesehen von der Empfangsdame, die gerade versuchte, den Stevie-Wonder-Song »I Just Called to Say I Love You« als Klingelton auf ihr Handy zu laden. Sie unterbrach ihre Tätigkeit gerade lang genug, um mir einen lächerlich großen Hotelschlüssel zu überreichen. Der Hotelpage war ein Teenager, dessen Uniform einer Wolldecke ähnelte, die ihm bis über den Kopf reichte. Statt Schuhen trug er Teile von Autoreifen an den Füßen. Er führte mich über einen gewundenen, von großen Pflanzen gesäumten Betonpfad zu einem Zimmer im ersten Stock. Das Zimmer war sehr reduziert eingerichtet und hatte Natursteinmauern und denselben Fliesenboden wie die Lobby. Da ich aus einem Land der Ersten Welt kam, erschien mir das Moskitonetz eher romantisch, als dass es mich an Malariamücken erinnert hätte. Doch die einsame Glühbirne, die an einem Kabel aus einem Loch in der Decke hing, sah einem Galgenstrick so ähnlich, dass ich nervös schluckte.
Inzwischen war ich seit zweiunddreißig Stunden wach. In der Zeit hatte ich gepackt, war von New York über New Jersey und Amsterdam nach Tansania gereist. Ich hatte siebzehn Stunden im Flugzeug gesessen, hatte acht Filme angesehen und einen fünfstündigen Zwischenaufenthalt abgesessen. Trotzdem war ich überhaupt nicht müde. Also machte ich meinen Rucksack auf und zog zwei weiße Kartonstücke heraus, die ich aus New York mitgebracht hatte. Becca hatte mich auf die Idee gebracht. »Du solltest dir Schilder machen, die du auf den Fotos auf dem Gipfel hochhältst«, schlug sie vor, als ich sie das letzte Mal im Krankenhaus sah. »Das ist ein Superweihnachtsgeschenk.« Ich hatte sie eigentlich schreiben wollen, bevor ich New York verließ, aber das Kofferpacken hatte länger gedauert als gedacht, also hatte ich einfach nur Karton und zwei schwarze Filzstifte in den Rucksack geworfen. Jetzt war ich dankbar, in diesem Zimmer ohne Telefon, Fernseher oder auch nur einer Steckdose etwas zu tun zu haben. Im gnadenlosen Licht der nackten Glühbirne verbrachte ich eine Stunde damit, Blockbuchstaben mit schwarzem Filzstift auszumalen. Auf jede Seite schrieb ich eine andere Message:
HALLO , MAMA !
ICH ♥ PAPA
ICH ♥ MATT
(und nur zum Spaß) ICH BIN HIGH
Irgendwann versagte der Filzstift, und ich hoffte, meinem Vater würde nicht auffallen, dass die Buchstaben auf seinem Schild von links nach rechts immer heller wurden. Um halb zwölf machte ich mein Fläschchen mit den Schlaftabletten zum letzten Mal in diesem Jahr auf. In den letzten fünf Monaten hatte ich meine Dosis schrittweise immer um eine halbe Tablette reduziert. Nachdem ich vor Kurzem eine ganze Serie von schlaflosen Nächten gehabt hatte, war ich jetzt jedoch wieder bei drei Tabletten. Als ich sie mir in den Mund warf, hatte ich einerseits Schuldgefühle, dass ich noch immer welche nahm, andererseits hatte ich Angst, dass ich sie tatsächlich bald ganz aufgeben würde. Morgen würde ich mich zum ersten Mal seit zehn Jahren ohne irgendeine Art von Einschlafhilfe hinlegen. Als das vertraute nebelige Gefühl einsetzte, kletterte ich auf die
Weitere Kostenlose Bücher