Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
ein – ein Ritual, das wir in jedem Lager wiederholen mussten. Ich war als Letzte dran und sah, dass Marie siebenundvierzig war, Henri dreiundfünfzig und Grafikdesigner. Als wir fertig waren, hatten sich die Träger mit unseren Taschen, Schlafsäcken und Lebensmitteln für eine Woche bereits auf den Weg gemacht. Wir folgten ihnen in den Regenwald und atmeten den lehmigen Geruch von Mineralien und Chlorophyll ein. Um die Erosion einzudämmen, hatte man eine Art Treppe aus Holzscheiten gebaut, die uns den Aufstieg erleichterten. Eine Gruppe von afrikanischen Kindern, die um die sieben Jahre alt waren und Crocs in leuchtenden Farben trugen, blockierten den Weg. Sie streckten die Hände aus und riefen »money, money, money«. Dismas verscheuchte sie, und wir wanderten weiter. Ab und zu kamen Träger von anderen Gruppen von hinten, und wir traten beiseite, um sie durchzulassen.
»Jambo!«, riefen sie mit breitem Grinsen. Sie waren der Albtraum jedes Chiropraktikers: Jeder von ihnen trug mit leicht vorgestrecktem Kopf eine Tasche von 45 Pfund auf dem Genick, und das sechs Stunden am Tag. Ein paar balancierten ihre Last auch auf dem Kopf. Dafür bekamen sie pro Tag ein durchschnittliches Trinkgeld von 5 Dollar – ungefähr der Betrag, den ich einem Hotelpagen in den Vereinigten Staaten dafür geben würde, dass er mir drei Minuten lang mein Gepäck trägt.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Dismas außer Hörweite war, bemerkte Marie: »Die reinsten Lasttiere. In anderen Kulturen setzt man Kamele oder Mulis ein. Hier nehmen sie junge Männer.«
Wenn ich in New York bin, gehe ich so schnell, dass die anderen Fußgänger nur so an mir vorbeiwischen, als stünde ich auf einem unsichtbaren Laufband. Auf dem Berg wurde unser Tempo von unserem Führer bestimmt. Wir gingen so langsam wie bei einem feierlichen Hochzeitsmarsch. »Pole pole« hieß das Motto am Kilimandscharo, das bedeutete »immer schön langsam« auf Kiswahili. Indem man pole pole ging, konnte man der Höhenkrankheit vorbeugen und die Chance erhöhen, dass die Wanderer es wirklich bis zum Gipfel schafften. Niemand war enttäuschter über das pole pole als Henri. Er hatte am Mount Meru ein solches Tempo vorgelegt, dass die Bergführer ihn »Mountain Gazelle« getauft hatten, erzählte Marie mit sichtlichem Stolz. Dismas wies auf die zarten lavendelartigen Blumen, die am Wegesrand blühten. »Diese Blumen heißen Impatiens.«
»Die Ungeduldigen?« Ich lachte. »Ich weiß genau, wie die sich fühlen.«
»Sie haben Glück auf ihre Seite, Miss Noelley«, erwiderte Dismas. »Die meiste Leute, die es bis zum Gipfel schaffen, sind alte Leute und Frauen.«
»Wirklich? Ich hätte gedacht, eher die jungen Männer.«
Er schüttelte den Kopf. »Die haben zu heiße Blut. Sie gehen zu schnell. Sie rennen. Dann müssen sie wieder umkehren.«
Als wir den ersten Rastplatz erreichten, ließ ich mich neben Marie auf eine Bank plumpsen. »Wenn mein Arsch nach dieser Tortur nicht umwerfend aussieht, bin ich echt sauer«, sagte ich zu ihr, während ich meine Beine ausstreckte. Dass ich die letzten drei Stunden im Grunde ununterbrochen eine riesige Treppe hochgestiegen war, merkte man ihnen nicht zu sehr an. Wahrscheinlich zahlte sich jetzt mein Training aus.
Dismas und die Hilfsführer wechselten sich beim Verjagen der Mungos ab – die Tierchen spähten mit ihren kleinen Bärengesichtern und den nerzartigen Körpern aus dem Gebüsch – und verscheuchten eine Molukkenkrähe, die sich zu gerne mit unseren Lunchpaketen davongemacht hätte (ein häufig auftretendes Problem, wie Dismas berichtete). Wenn die Männer nicht gerade Tiere verjagten, aßen sie ihr Mittagessen auf ungefähr fünf Meter entfernten Felsen. An unserem Picknicktisch wäre mehr als genug Platz gewesen, aber als wir sie einluden, sich doch zu uns zu setzen, lehnten sie ab und verstärkten damit noch das Gefühl der Rassentrennung am Kilimandscharo.
Es kam mir vor wie ein Wunder, dass es entlang der Strecke funktionierende Toiletten gab, sowohl in den meisten Lagern als auch in den kleinen Häuschen am Wegesrand. Allerdings mussten die Reisenden ihr Toilettenpapier selbst mitbringen, also hatte ich vier Rollen eingepackt, die für die Woche reichen mussten. Nach dem Essen holte ich eine aus meinem Rucksack und ging zu einem Klohäuschen. Mir war ein bisschen unwohl, weil die Rolle in meiner Hand gar so deutlich verriet, was ich jetzt vorhatte. Als ich das Häuschen betrat, sah ich, dass die Toilette
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