Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Unsicherheit«, riet mir Dr. Bob immer. Der Tod war die größte Unsicherheit des Lebens. Man konnte sich nicht darauf vorbereiten. Man wusste nie, wann er einen ereilen würde. Und wenn es so weit war, verlor man alles, was einem vertraut war. Man konnte nichts mitnehmen. Man musste allein gehen. Ich erkannte, dass alle Ängste mit dem Prozess des Loslassens zu tun hatten. Und der Tod war das ultimative Loslassen. Man akzeptierte, dass die Welt ohne einen weiterging.
Am nächsten Tag begleitete ich Terry im Leichenwagen, um Abe Lincolns Asche seiner Familie zu übergeben und die Leiche der Mennonitenfrau am Friedhof für ihren Begräbnisgottesdienst abzuliefern. Das waren meine letzten Aufträge, bevor ich den Heimweg antrat. An roten Ampeln blieben die Autos auf der Nebenspur ein wenig zurück, und neugierige Fahrer versuchten, durch die mit Vorhängen geschützten Fenster einen Blick auf den Sarg zu erhaschen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sich Franklins Begräbnisprozession für Eleanor angefühlt haben musste. Sie musste so viel auf einmal verarbeiten – den Tod und die Untreue ihres Ehemannes, den Verrat ihrer Tochter, und bei alledem sollte sie in der Öffentlichkeit auch noch Stärke zeigen. Sie hatte die Nacht in Warm Springs verbracht und am nächsten Morgen einen Zug bestiegen, der Franklins Leiche nach Washington D. C. transportierte. Auf der Fahrt ließ sie die Vorhänge die ganze Zeit offen und betrachtete durchs Fenster Tausende von weinenden Amerikanern, die sich an der Strecke versammelt hatten, um dem verstorbenen Präsidenten die letzte Ehre zu erweisen. Bei der Begräbniszeremonie im Weißen Haus trug sie nur ein einziges Schmuckstück, eine goldene Lilienbrosche, ein Hochzeitsgeschenk von Franklin. Als sie zu ihrer Wohnung in New York zurückkam, fand sie eine Traube von Reportern an ihrer Schwelle vor. »Die Story ist zu Ende«, erklärte sie.
Wir fuhren auf den Mennonitenfriedhof und steuerten auf eine Gruppe von Männern mit Strohhüten und Frauen mit Hauben und dunkelblauen schlichten Kleidern zu. Wie die Amish wollten sie das Begräbnis selbst durchführen, also blieben Terry und ich während des Gottesdienstes beim Leichenwagen. Als er vorbei war, fuhr man zum Haus der Verstorbenen, wo die ganze Gemeinde sich zum Mittagessen versammelte.
Dann lieferten wir Abe Lincolns Asche bei seiner Familie ab. Als ich Abes Sohn die Urne übergab, erzählte er mir, sie hätten nach dem gestrigen Gottesdienst noch gefeiert, indem sie sechs Stunden lang das Computerspiel Rock Band gespielt hatten, wobei jedes Familienmitglied ein anderes Musikinstrument übernahm. Jetzt beratschlagten sie gerade, wie sie Abes letzten Wunsch erfüllen sollten: Er wollte, dass seine Asche im Stadion der Cleveland Browns beigesetzt wird, aber das war illegal. Ihr Plan war so weit gediehen, dass sie sich während eines Spiels mit Abes Asche in einer unauffälligen Kaffeetasse in die erste Reihe schleichen und sie über die Bande ausleeren wollten. In der Hoffnung, dass sie schneller waren als die Sicherheitskräfte.
Nachts saß ich im Zug nach New York und starrte auf die vorüberfliegenden Bäume. Als ich an die Leute dachte, die ich an diesem Tag auf den Beerdigungen hatte weinen sehen, wusste ich, dass Sean recht hatte: Gegen diese Angst konnte man sich nicht wappnen. Egal, wie viele geliebte Menschen man schon verloren hatte, der Tod würde einen immer wieder vernichtend treffen. Wir sind Menschen. Und noch stärker als unser Instinkt zu leben ist unser Instinkt zu lieben. Deswegen rennen Leute in brennende Häuser, um ihre Familienmitglieder zu retten. Deswegen werfen sich Mütter in höchster Gefahr schützend vor ihre Kinder.
Ich würde nicht sagen, dass ich keine Angst mehr vor dem Tod hatte, aber ich hatte meinen Frieden mit ihm gemacht. Er hatte sein Mysterium verloren. Ich war auch nicht sicher, ob ich diese Angst ganz loswerden wollte. Die Angst vor dem Tod konnte sich auf zwei verschiedene Arten auswirken: Sie konnte einen dazu bringen, ganz in der Gegenwart zu leben, die Menschen und Dinge um sich herum mehr zu schätzen und sich der Vergänglichkeit alles Lebendigen bewusst zu sein. Oder sie brachte einen dazu, in der Zukunft zu leben und sich ständig zu sorgen, wann man sterben würde – doch dann konnte man eben nicht richtig leben.
In der letzten Woche hatte ich die interessantesten Personen meines Lebens getroffen, von denen nicht mehr alle am Leben waren. Manche von uns lebten ihr Leben,
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