Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
mit einem Betäubungsmittelgewehr herunterschießt.
Ich biss die Zähne zusammen und ließ los. Dieses Loslassen – den Körper zu strecken und mich ins Nichts fallen zu lassen – hatte etwas Befreiendes, war aber auch extrem nervenaufreibend.
»Rücken durchdrücken, Arme vor!«
Ich streckte die Arme in Superman-Pose nach vorn. Als ich wieder zurückschwang, sah ich für einen kurzen Moment einen auf dem Kopf stehenden Hank, der mir die hochgereckten Daumen zeigte. Oder zeigten seine Daumen nach unten? Bevor ich mir noch mehr Gedanken darüber machen konnte, wurde es auch schon Zeit, dass ich das Trapez wieder mit den Händen fasste. Ich krümmte mich nach oben, und sowie meine Finger das Metall berührten, umklammerte ich die Stange, so fest ich konnte. Dann zog ich meine Beine wieder herunter, sodass ich gerade vom Trapez herabhing.
»Los, Noelle, Zeit zum Runterkommen!«, rief Ted. Während das Trapez ein drittes und letztes Mal nach vorne schaukelte, zog ich die Knie an die Brust, ließ los und vollführte einen perfekten Rückwärtssalto, mit dem ich im Netz landete. Dabei schlug ich mir die Zehen so heftig am Trapez an, dass der Schrei heute noch von den Catskill Mountains widerhallt. Aber abgesehen davon hatte ich meine Sache echt gut gemacht.
Ein paar Tage zuvor hatte ich Dr. Bob in einer unserer Sitzungen gefragt: »Warum habe ich Angst vor Höhen?«
»Weil Sie klug sind!« Er lachte. »Schauen Sie sich doch mal die größten Ängste der Menschen an: Schlangen, Insekten, Ratten und Höhen. Die Evolution hat uns bestimmte Ängste einprogrammiert, um unsere Überlebenschancen zu vergrößern. Vor 50 000 Jahren machten die Menschen einen Bogen um Schlangen, Insekten und Ratten, weil solche Tiere oft Krankheiten übertrugen. Und unsere Urahnen, die sich vor Höhen fürchteten, fielen eben nicht von der Klippe.«
»Aber ich dachte immer, Ängste sind erlernt.«
Er schüttelte den Kopf. »Manche sind erlernt, mit anderen werden wir geboren. Es gab mal eine Studie, in der Psychologen ein Krabbelkind auf einen Tisch setzten, der eine Plexiglasscheibe in der Mitte hatte. Das Baby hätte problemlos über diese Glasscheibe krabbeln können – aber so gut wie jedes Kind in diesem Experiment scheute es davor zurück. Warum?«
»Weil es durch das Plexiglas so aussah, als könnte es abstürzen.«
»Kleine Katzen und Hundewelpen weigerten sich ebenfalls, über die Plexiglasscheibe zu gehen«, fuhr er fort. »Dann hat man es mit Entenküken versucht. Und wissen Sie was? Die Entchen watschelten drüber ohne eine Spur von Protest. Und warum hatten die wohl keine Angst?«
»Weil sie Flügel haben?«, riet ich.
»Genau.«
Ich überlegte kurz. »Aber wenn eine Angst instinktbedingt ist, können wir dann … überhaupt etwas dagegen tun?«
»Wenn wir eine scheinbar riskante Situation immer und immer wieder durchleben, ohne dass uns dabei etwas geschieht, können wir unserem Hirn beibringen, weniger Angst zu haben.«
»Es wachsen einem quasi Flügel.«
»Genau.«
Nachdem ich vom Trapezgerüst zur Gruppe gehumpelt war, gab Chris mir seine kalte Wasserflasche, die ich mir über meine anschwellenden Zehen legte. Meine Wangen waren ganz rot vor Aufregung über das, was ich gerade geleistet hatte, aber ich hatte jetzt auch mehr Angst als zu Beginn der Unterrichtsstunde. Bevor ich drankam, hatte immer noch die Möglichkeit bestanden, dass es alles gar nicht so beängstigend wäre, aber jetzt hatte ich die Bestätigung gehabt. Jetzt wusste ich genau, wie schnell und wie hoch sich das alles anfühlte. Aber ich wusste auch, dass es tapfer ist, etwas zu tun, wovon man vermutet, dass es schrecklich ist, aber noch tapferer ist es, etwas zu tun, wovon man weiß , dass es schrecklich ist. Und darauf zu vertrauen, dass es durch Wiederholung irgendwann besser wird.
Wie sich herausstellte, war das tatsächlich der Fall. Nachdem ich noch dreimal an den Knien hängend geschaukelt und mit Rückwärtssalto abgesprungen war, hatte sich mein Puls schon deutlich beruhigt. Nach dem vierten Mal hörten meine Hände auf zu zittern. Kurz vor dem letzten Durchgang bemerkte ich schaudernd, dass ein stämmiger Latinotyp auf dem zweiten Trapez saß. In diesem Moment verkündete Ted, dass wir uns jetzt fangen lassen sollten.
»Sie schwingen an Ihren Kniekehlen hängend, genau wie vorhin. Aber diesmal wird unser Pepe …« Der Mann auf dem zweiten Trapez, der jetzt kopfüber an den Kniekehlen von der Stange hing, winkte uns freundlich zu.
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