Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
wieder wegzog, so wie ein Matador sein rotes Tuch vor der Nase des Stieres schwenkt. Es machte tatsächlich richtig Spaß. Auf diese Art hielt man den Hai in der Nähe des Schiffes, weil er sich den Köder nicht einfach schnappen und davonflitzen konnte. Doch der Blauhai drehte immer wieder ab.
»Mach ich irgendwas falsch?«, wollte ich wissen.
»Irgendwas macht ihm Angst«, sagte Ronald mit wissender Miene. »In so einem Fall ist meistens ein Makohai in der Nähe.«
»Warum sollte ein kleiner Hai einen größeren Hai verscheuchen?«
»Makohaie sind die schnellsten Fische überhaupt und aggressiv obendrein. Manchmal fressen sie sogar andere Haie. Es ist schon vorgekommen, dass Makoembryos sich im Mutterleib gegenseitig fressen.«
»Sie essen ihre Brüder und Schwestern noch vor der Geburt auf? Wahnsinn«, meinte ich.
Dieses biologische Detail konnte Ronald nicht mehr erschüttern. Er kletterte bereits mit Les in den Käfig, weil er zu gern den großen Blauhai aus der Nähe sehen wollte. Doch der kam nicht mehr zurück, und nach einer halben Stunde im Wasser tauchten die beiden mit enttäuschten Gesichtern wieder auf.
»Tja, ich hab’s euch schon bei der Anmeldung gesagt: Ich kann nie garantieren, wie viele Haie wir zu sehen kriegen«, verteidigte sich Gus. »Manchmal sind überhaupt keine da. Ich tue bloß, was ich kann, und hoffe das Beste.«
Les begann mir Geschichten aus seinem persönlichen Leben zu erzählen, um mich von meiner Seekrankheit abzulenken. Als er erzählte, wie er seine Tochter ins Gesicht geschlagen hatte, »um ihr zu zeigen, wer das Sagen hat«, erklärte ich: »Ich glaube, ich geh jetzt mit Mandy in den Käfig.« Ich zog den Neoprenanzug an und versuchte, nicht daran zu denken, dass ich keinerlei Taucherfahrung hatte. Technisch gesehen braucht man keinen Tauchschein, solange man nicht tiefer als vier Meter geht, aber ich war noch nie zuvor mit Flasche getaucht. Mir fiel ein Buch aus der Reihe Tausend Gefahren. Du entscheidest selbst ein, das ich als Kind gelesen hatte: Die Hauptfigur war ein Taucher, der nach einem versunkenen Schatz suchte, und am Ende der Geschichte konnte der Leser über sein Schicksal entscheiden. Man konnte nach dem Schatz tauchen, obwohl nur noch wenig Sauerstoff übrig war, oder man konnte auf Nummer sicher gehen und ihn zum Boot zurückschwimmen lassen, dabei aber riskieren, dass man den Schatz nicht wiederfand. Ich ließ den Finger in der Seite und blätterte vor, um zu sehen, was geschehen würde. Demjenigen, der das Risiko einging, ging der Sauerstoff aus, und er erstickte auf dem Meeresgrund. Der andere, der zum Boot zurückschwamm, führte danach noch ein glückliches, aber höchstwahrscheinlich langweiliges Leben.
Gus unterwies mich drei Minuten lang, wie man die Flaschen benutzt und wie man Wasser aus der Taucherbrille bekommt. Mir drehte sich der Magen um, aber diesmal nicht wegen meiner Seekrankheit, sondern vor Nervosität. Moment – die Seekrankheit!
»Was passiert, wenn ich mich unter Wasser übergeben muss und anfange zu würgen?«, fragte ich.
»Dann erbrichst du dich ins Atemgerät«, erklärte Gus zu meinem großen Ekel.
»Und wenn ich in Schwierigkeiten komme und nach oben muss?«
»Dann gibst du mir ein Signal, indem du den Käfigdeckel anhebst, das seh ich von oben, und dann hol ich euch rein«, sagte er. »Aber vergiss auf keinen Fall, den Deckel direkt danach wieder zuzumachen.«
»Warum?«
»Wenn der Deckel offen bleibt, kann ich den Käfig nicht fassen und am Heck befestigen, sobald ihr oben seid.«
»Und was wäre dann?«
»Dann würde der Käfig unters Boot sinken«, erklärte er.
Ich schauderte.
»Ach ja, und pass auf, wenn du die Gitterstäbe anfasst. Dabei kann man leicht gebissen werden«, fügte er hinzu.
Sowie Mandy und ich sicher im Käfig waren, schloss Gus den Deckel, band ihn mit einem Bungeeseil zu und ließ uns vier Meter tief ins Meer. Es fühlte sich an, als säßen wir in einer Unterwasserachterbahn ohne Gurte. Das stark bewegte Wasser schleuderte den Käfig vor und zurück, und wir mussten uns an den Gitterstäben festhalten, um nicht gegen Käfigwände und -decke zu prallen. Mandy und ich standen Rücken an Rücken. Auf diese Art würde einer von uns es auf jeden Fall sehen, wenn sich ein Hai näherte, und konnte dem anderen dann ein Zeichen geben. Ich biss so fest auf mein Mundstück, dass mir die Lippen schon wehtaten. Irgendwie war es ein klaustrophobisches Gefühl, unter Wasser zu atmen – als würde das
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