Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
ausliefen, und ich band mir mein verfilztes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, damit es mir nicht ständig ins Gesicht flog. Außerdem war die See rauer als am Vortag. Das Boot wurde hin und her geworfen, bis mir der Horizont vorkam wie eine verrückt gewordene Wippe. Schon bald umklammerte ich wieder die Reling und übergab mich. Bill verschwand nach unten, um mir Tabletten gegen die Übelkeit zu holen.
»Mann, das stinkt ja grässlich hier oben!«, meinte er fröhlich, als er zurückkam. Der Geruch meines Erbrochenen mischte sich mit dem des Fischköders. »Riecht wie Kotze, die von Kotze ausgekotzt wurde.«
Eine Stunde später war es wieder Zeit zum Tauchen. Ich hatte nur wenig Verlangen, wieder in den Käfig zu steigen, aber andererseits hätte ich damit meinem Angstprojekt für heute Genüge getan. Außerdem würden mich die anderen sicher für seltsam halten, wenn ich den ganzen Weg hierhergekommen wäre, um nur ein einziges Mal zu tauchen.
Ich wühlte in dem Eimer mit den Bleigürteln. »Ist das derselbe, den ich gestern benutzt habe?«, fragte ich und hielt einen in die Höhe. Keiner antwortete mir. Gus half gerade Ronald und Mandy aus dem Käfig, Les fummelte an seiner Kamera herum und blickte gar nicht auf. Also zuckte ich mit den Schultern und legte den Gürtel um. Als Bill und ich in den Käfig kletterten, bot er mir an, meine Einweg-Unterwasserkamera zu halten, da ich als Erste einstieg. Während ich meinen Körper langsam ins kalte Meerwasser senkte, hörte ich ein Klicken und sah auf. Bill hielt die Kamera auf mich und blinzelte durch den Sucher.
»Bitte recht freundlich«, sagte er.
Ich nahm mein Mundstück zwischen die Zähne und tauchte unter. Bill folgte mir eine Minute später. Dann schloss Gus den Käfigdeckel und band ihn mit dem Bungeeseil zu. Ich spürte, wie der Käfig sich langsam ins Wasser absenkte, aber ich sank nicht mit. Ich blieb in der Käfigmitte hängen, irgendwo zwischen Decke und Boden. Der Bleigürtel! Ich musste doch einen anderen erwischt haben als gestern, denn der war schwer genug gewesen, um mich auf dem Käfigboden zu halten. Das Meer war heute turbulenter, und plötzlich stieß mich eine besonders enthusiastische Welle nach oben, sodass ich gegen die rasch herabsinkende Käfigdecke stieß. Als ich den Kopf schüttelte, um wieder klar zu werden, stellte ich fest, dass sich meine verfilzten Haare in dem Bungeeseil verheddert hatten, mit dem der Deckel verschlossen war. Ich hing quasi mit meinem Pferdeschwanz am Käfigdeckel. Unterdessen strampelte ich mit den Beinen wie ein Verurteilter am Galgen, der noch bis zum letzten Atemzug kämpft. Der Bleigürtel zog mich nach unten, während mein eingeklemmter Pferdeschwanz mich oben festhielt. Dabei verrutschte meine Taucherbrille und mir lief Wasser in die Maske. Ich versuchte, irgendwo Halt zu finden, und stützte meine Füße auf zwei Gitterstäben ab, während ich versuchte, meine Haare loszumachen. Als meine Füße ein Stück durch die Stäbe rutschten, fiel mir wieder Gus’ Warnung ein, die Hände und Füße nicht hinauszustrecken, denn »die Haie nehmen von allem mal einen Probehappen«. Panisch riss ich an meinen Haaren. Das wäre wahrscheinlich der passende Zeitpunkt gewesen, um Hilfe zu rufen, indem ich die Käfigtür öffnete, aber dummerweise hing ich ja mit den Haaren an eben dieser Tür. Nach ungefähr fünf Minuten bekam ich meinen Pferdeschwanz frei und gesellte mich zu Bill, der am Käfigboden saß. In meiner Taucherbrille stand das Wasser ungefähr zwei Zentimeter hoch. Ich versuchte es mit dem Trick, den Gus mir gezeigt hatte, um das Wasser wieder hinauszupressen – nach oben blicken und gleichzeitig den unteren Rand der Maske leicht anheben –, aber dabei lief mir nur noch mehr Wasser hinein. (Später erfuhr ich, dass ich in dem Moment hätte ausatmen müssen, in dem ich die Taucherbrille anhob.) Ich sah Bill bittend an. »Ich hab Wasser in der Taucherbrille und krieg es nicht mehr raus! Was soll ich machen?«, wollte ich schreien. Ich deutete auf meine Taucherbrille, doch er verstand nicht und schüttelte nur den Kopf.
Ich schnallte mir die Brille fester, aber als ich an dem Riemen zog, lief noch mehr Wasser hinein. Da versuchte ich, nur noch durch den Mund einzuatmen, aber bei jedem Atemzug holte ich auch gleichzeitig Luft durch die Nase. So atmete ich jedes Mal ein wenig Meerwasser ein und fragte mich, ob auf einem Totenschein wohl genug Platz war für eine Todesursache wie »Komplikationen mit
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