Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Jungen gesagt hatte. Also beugte ich mich vor und stützte mich mit den Ellbogen auf die Knie, um ihm so nahe zu sein, dass die anderen Jugendlichen uns nicht hören konnten.
»Ich kann dir versprechen, dass das nicht immer so bleiben wird«, sagte ich.
Er blickte verdutzt auf und überlegte offensichtlich, ob ich ihm als Nächstes was von Jesus erzählen würde oder ob ich einfach eine von den unzähligen Geistesgestörten in der U-Bahn war. Die Leute neben uns guckten mich auch schon so komisch an. Ich merkte, dass mir die Hitze in die Wangen stieg, aber es war mir egal.
Ich sah ihm in die Augen und fuhr fort: »Die Leute sind gemeiner, wenn sie jünger sind. Das ist einfach so. Aber das wird nicht immer so bleiben. Irgendwann hast du die High School hinter dir und hast neue Leute um dich herum. Und dann wird fast jeder, den du kennenlernst, nett zu dir sein. Die Welt, in der du im Moment lebst, ist nicht die richtige Welt. Vergiss das nicht. Eines Tages wird es jede Menge Leute geben, die nur zu gerne möchten, dass du dich zu ihnen setzt.«
Ich wollte ihn nicht verlegen machen, indem ich eine Antwort abwartete, also wandte ich mich wieder meiner Zeitung zu. Ein paar Minuten später warf ich heimlich einen Blick über den oberen Rand der Times . Er starrte wieder ins Leere, aber diesmal spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen.
Mrs. Andrews war Ende fünfzig. In den letzten zwei Monaten hatte ich zugesehen, wie sie ihr schönes rotes Haar bis auf ein paar Strähnen verlor. Als ich letzte Woche ihre Bestellung aufgenommen hatte, merkte ich, dass es sie Mühe kostete, mir überhaupt zuzuhören.
Diese Woche betrat ich ihr Zimmer schon sehr vorsichtig, aber zu meiner Erleichterung war sie immer noch da. So gerade eben. Sogar im Schlaf atmete sie nur mit großer Mühe. Ein Mann, den ich für ihren Ehemann hielt, saß in der Ecke auf einem Stuhl. Er wirkte so zerknittert, als würde er schon seit Tagen dort sitzen.
Er rieb sich mit den Händen über das verhärmte Gesicht und sagte: »Ihr Zustand verschlimmert sich immer mehr, Frau Doktor. Gibt es denn nichts, was Sie tun können?«
Ich sah mich um, aber hinter mir war niemand. Er hielt mich für eine Ärztin. Aufgrund der Hygienevorschriften für dieses Zimmer trug das gesamte Personal hier dieselben langärmligen Kittel, daher konnte man schlecht sehen, ob man es mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter oder einem Arzt zu tun hatte. Seine verzweifelten Augen baten um ein bisschen Hoffnung. Doch ich hatte keine Hoffnung für ihn. Ich hatte ja nicht mal Erdbeergeschmack.
»Entschuldigung, ich bin nur eine von den Ehrenamtlichen hier. Ich … äh … ich mache die Milchshakes«, erklärte ich und kam mir schrecklich lächerlich vor. »Ich bin hier, um die Bestellung für Ihre Frau aufzunehmen. Wissen Sie zufällig, welche Geschmacksrichtung sie am liebsten mag?«
Er blinzelte mich einen Augenblick verwirrt an. »Wie bitte?«
»Ich nehme die Bestellung für den Milchshake auf. Wir haben Vanille und Schokolade …« Ich verstummte.
Sein Blick fiel auf seinen Schoß. Er antwortete nicht.
Schließlich fragte ich: »Kann ich Ihnen sonst mit irgendetwas behilflich sein?« Dabei war ganz offensichtlich, dass ich das nicht konnte.
Besucher sagen selten das Richtige, wenn sie das Zimmer eines Krebspatienten verlassen. Eines Tages brachte ich einem Patienten gerade seinen Shake, als seine Arbeitskollegen aufbrachen.
»Werd bald wieder gesund!«, sagten einige von ihnen.
Einer klopfte dem Mann sogar auf die knochige Schulter. »Sollst mal sehen, in null Komma nix bist du wieder zurück im Büro!«
Ihre Bemerkungen waren völlig absurd. Noch vor ein paar Monaten hätte ich wahrscheinlich dasselbe gesagt. Jetzt hätte ich sie am liebsten gepackt und geschüttelt. Der Mann lächelte seine Freunde nachsichtig an, doch er wusste ganz offensichtlich – wie wir alle – dass er seinen Fuß nie wieder in irgendein Büro setzen würde. Erst vor Kurzem hatte ich gehört, wie ein Arzt im Gespräch mit einem Kollegen meinte, der Mann habe schon darum gebeten, von eventuellen Wiederbelebungsversuchen abzusehen.
»Normalerweise bedeutet das, dass sie schon im Endstadium sind«, erklärte mir Becca später. »Solche Patienten möchten eigentlich nur noch, dass man sie sterben lässt.«
Wie einsam man sich fühlen muss, wenn Familie und Freunde die ganze Zeit heucheln. Wenn man merkt, dass sich alle um eine bestimmte Art des Umgangs bemühen. Wenn alle mit einem sprechen wie
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