Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
die Eltern mit einem kleinen Kind, die darauf beharren, dass es den Weihnachtsmann gibt, obwohl es schon lange aufgehört hat, an ihn zu glauben.
In solchen Momenten hätte ich mich gerne eingemischt, aber angesichts meiner Position stand mir das nicht zu. Es gab Therapeuten, die zu den Patienten kamen, um mit ihnen über solche Dinge zu sprechen. Becca und ich hatten nur wenige Minuten mit jedem Patienten, und das war kaum ausreichend, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Aber ich merkte, dass ich etwas anderes für diese Menschen tun konnte. Der Organismus dieser Leute wurde von einer Krankheit zerstört, während ich meinen eigenen Nacht für Nacht sehenden Auges selbst schädigte. Ich wusste, aus Respekt für diese Menschen musste ich endlich mit meinen Schlaftabletten aufhören.
10. K APITEL
Gestern ist Geschichte. Morgen ist ein
Geheimnis. Heute ist ein Geschenk.
Eleanor Roosevelt
D as war einfacher gesagt als getan. Wenn ich ganz ehrlich war, fiel es mir ja schon schwer, es überhaupt nur zu sagen. In den folgenden zwei Wochen erzählte ich niemandem von meinem Entschluss, weil ich Angst hatte, dass ich es nicht schaffen könnte und dann auch noch die Enttäuschung der anderen zu spüren bekommen würde. Nicht mal Dr. Bob weihte ich ein. Als er mich bei unserer nächsten Sitzung fragte, worüber ich sprechen wollte, brachte ich ein anderes Ereignis dieser Woche auf den Tisch. Ich hatte für einen Artikel über Internetbekanntschaften recherchiert und war dabei über die Anzeige einer Frau namens Jasmine gestolpert. Als Antwort auf die Frage Wenn Sie in diesem Moment woanders sein könnten, wo wären Sie dann am liebsten? hatte Jasmine geschrieben: »In diesem Moment.« Die meisten Konkurrentinnen hatten eher für Cancún votiert, deswegen fiel einem ihre Antwort so ins Auge. Wie oft lebe ich eigentlich ganz in diesem Moment? , fragte ich mich.
»Und, wie oft?«, fragte Dr. Bob.
»Ich bin ja nicht mal sicher, ob ich weiß, was das bedeutet. Deswegen habe ich Sie gefragt.« Ich klang etwas kratzbürstiger als geplant. Nach zwei Wochen Schlafentzug war ich schon einigermaßen griesgrämig.
Er nahm meinen Ton gar nicht zur Kenntnis. Stattdessen holte er tief Luft, wie man es gerne tut, wenn man jemandem etwas Kompliziertes erklären möchte. »Worüber wir hier eigentlich reden, ist Achtsamkeit«, begann er. »Achtsamkeit ist eine Technik, bei der man sich auf die Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart konzentriert, ohne die Ereignisse zu beurteilen oder zu versuchen, sie zu beeinflussen. Man ist sich der Dinge einfach nur bewusst. Diese Praxis liegt vielen Formen östlicher Meditation zugrunde, vor allem im Buddhismus. Aber Sie müssen keine Buddhistin sein, um Achtsamkeit zu praktizieren.«
»Sie schlagen also vor, ich soll meditieren?« Ich lag nachts schon stundenlang mit geschlossenen Augen da und war allein mit meinen Gedanken. Der Gedanke, diesen Zustand tagsüber absichtlich fortzusetzen, war mir unerträglich. »Das passt nicht in mein Projekt. Es ist nicht unbedingt beängstigend, im Schneidersitz auf dem Boden zu hocken und zu summen«, meinte ich schnippisch.
Seine Miene blieb geduldig, doch er wusste offenbar, dass da noch etwas nachkam. Also wartete er, bis ich schließlich herausplatzte: »Tut mir leid, ich bin einfach so müde. Ich versuche gerade, von meinen Tabletten wegzukommen.« Ich reduzierte meinen Konsum schrittweise, weil es zu gefährlich gewesen wäre, meine täglichen fünf Pillen gleich komplett zu streichen. Ich wälzte mich jetzt schon stundenlang schlaflos im Bett, nachdem ich bloß von fünf auf vier heruntergegangen war.
»Das sind ja großartige Neuigkeiten«, sagte er freundlich. »Nicht, dass Sie müde sind. Aber das passt zu unserem Thema. Wir wissen, dass Ihre Schlaflosigkeit mit Ängsten zu tun hat. Indem Sie Achtsamkeit praktizieren, können Sie die Wurzeln Ihrer Sorgen angehen.«
Dr. Bob stützte entspannt einen Arm auf seine Stuhllehne. »Und nicht nur das«, fuhr er fort. »Die Achtsamkeit wird Ihnen helfen, ganz in der Gegenwart zu bleiben, wo es keine Furcht gibt. Furcht existiert nur in der Vergangenheit – wenn Sie sich zum Beispiel damit quälen, was Sie gestern Blödes zu Ihrem Chef gesagt haben – oder in der Zukunft – wenn Sie sich überlegen, ob Ihr Flugzeug abstürzen wird.«
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich ganz in der Gegenwart lebte. Als Bloggerin war ich darauf trainiert, in der Zukunft zu leben, immer schon der nächsten Story
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