Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Ferne. »Da drüben ist Kalmus Beach. Nach dem Typen benannt, der Technicolor erfunden hat.« Er dehnte die Vokale in »Technicolor« bis zur Unkenntlichkeit.
Es fiel ein dichter Nieselregen, und ich sah die Welt wie durch eine Fliegengittertür. Die Häuser waren im für Cape Cod typischen Stil erbaut: steile Dächer, von denen der Schnee leichter herunterrutschte, und grau verwitterte Dachschindeln, die zur Farbe des Himmels passten.
»Sagen Sie, ist das hier normal, dass es im April unter zehn Grad hat?« Als ich die Reise gebucht hatte, hatte ich mir vorgestellt, wie ich jeden Tag am Strand spazieren gehen und die Frühlingswärme auf dem Rücken spüren würde.
»Diese Woche ist es schon frischer als normal«, meinte er. »Die Kälte, die von der Nantucket-Bucht rüberkommt, kriecht einem schon ganz schön in die Knochen.«
»Sehen Sie dieses Sumpfland da links?« Er deutete mit einem Nicken auf die leuchtend dunkelrote Sumpfwiese, die Mr. Technicolor selbst nicht besser hätte hinkriegen können. »Das ist ein Cranberry-Sumpf.«
»Nicht im Ernst!« Ich verrenkte mir den Hals nach der Wiese. Nach all den Wodka-Cranberry, die ich in meinem Leben getrunken hatte, kam es mir vor, als würde ich einen Promi zum ersten Mal im richtigen Leben sehen. Ich starrte auf das Sumpfgebiet, bis es sich meinen Blicken entzog und wir in eine Straße bogen.
Schweigeexerzitien haben meistens einen religiösen Hintergrund, also hatte ich als praktizierende Katholikin mich für eine christliche Einrichtung entschieden. Ich ging jeden Sonntag in die Kirche, weil mir das einen gewissen Frieden gab, den ich über den Rest der Woche retten konnte. Aber in letzter Zeit war es mir zur Qual geworden, eine Stunde lang auf meinem Platz zu sitzen. Ich kniete wie alle anderen, aber statt zu beten, schielte ich auf meine Uhr und dachte. »Können wir das nicht ein bisschen schneller hinter uns bringen? Ich wollte eigentlich noch vor der Wiederkunft Jesu Christi hier raus.«
»Ah, da wären wir«, stellte der Taxifahrer fest. Er hielt vor einem Haus mit einem Schild im Vorgarten, auf dem der Name der Einrichtung stand. Ungefähr zehn kleine Hütten flankierten die Auffahrt. Als ich aus dem Auto stieg, drückte er mir seine Visitenkarte in die Hand: »Hier, für den Fall, dass Sie genug vom Schweigen haben«, sagte er augenzwinkernd.
»Was wollen Sie hier loslassen und was möchten Sie gerne bekommen?«, fragte Alice, eine ungefähr vierzigjährige Dame, die die Einrichtung betrieb. Wir saßen in einem Esszimmer im Landhausstil, um die letzten Formulare auszufüllen. Sie gehörte zu diesen unglaublich heiteren Menschen, die entweder einer religiösen Berufung gefolgt sind oder bei denen sich die Leichen im Keller stapeln. Sie hatte einen schulterlangen Mama-Haarschnitt und ließ ihr Haar in Würde ergrauen. Hinter ihren randlosen Brillengläsern steckte ein völlig faltenfreies Gesicht.
»Ich befürchte, ich werde langsam wie diese Leute, die nicht mehr ohne Handy, Fernsehen oder Internet leben können«, gestand ich. »Ich glaube, ich wollte diese ganzen Ablenkungen einmal hinter mir lassen und wieder lernen, einfach zu … s ein .«
»Hier geht es nicht nur darum, dass die Stimme schweigt, sondern auch der Geist«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Die meisten Leute finden es ganz schön schwierig, mit ihren Gedanken ganz allein zu sein. Soll ich Ihnen eine Technik beibringen, die Sie allein praktizieren können, um Ihren Geist zu beruhigen?«
»Gern.«
Sie legte sich die Hände aufs Herz, schloss die Augen und sagte: »Ich bin hier.« Sie wartete ein paar Sekunden, bevor sie die Augen wieder aufschlug.
Ich legte den Kopf auf die Seite. »Und das ist alles?«
»Ja, so einfach ist das. Sie sagen Ihrem Herzen, dass Sie hier sind und bereit sind, sich anzuhören, was es Ihnen zu sagen hat.«
Sie reichte mir einen Stift und ein Formular, auf dem ich meine Adresse und meine Kreditkartendaten eintragen sollte. »Sie können hier tun und lassen, was Sie wollen. Wir erwarten von unseren Gästen nur eines: Dass sie das Schweigen der anderen respektieren und nicht mit ihnen sprechen – obwohl Sie während des Gottesdienstes natürlich singen dürfen. Ab jetzt spreche ich nur noch mit Ihnen, wenn es absolut notwendig ist.«
Ich nickte und war nicht ganz sicher, ob ich jetzt schon schweigen sollte. Alice führte mich zu einer der kleinen Hütten, die nur aus einem einzigen Zimmer bestanden. Als ich sie betrat,
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