Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Erleichterung, als Alice zu den Gebeten überging.
Kurz nach dem Gottesdienst war es schon Zeit fürs Abendessen, das jeden Tag um 18 Uhr in der Küche des Hauptgebäudes serviert wurde. Margaret grüßte mich mit einem Kopfnicken, als ich eintrat. Wie sich herausstellte, war der Gottesdienst so spärlich besucht gewesen, weil sie in dieser Woche tatsächlich der einzige andere Gast war. Alice trat durch die Schwingtür aus der Küche und kam mit einem Tablett an unseren Tisch. Darauf standen rote Bohnen aus der Dose, auf denen kleine Bockwurst-Stückchen verteilt waren. Der Nachtisch bestand aus einem Maisbrot mit eingebackenen Blaubeeren, die aussahen wie Pockennarben. Sie stellte eine Flasche Ketchup auf den Tisch und sagte: »Stellen Sie die Teller bitte auf den Tresen, wenn Sie fertig sind. Friede sei mit Ihnen.« Dann ging sie hinaus.
Margaret senkte schweigend den Kopf. Ich tat es ihr nach, obwohl ich sonst normalerweise kein Tischgebet sage. Stattdessen sagte ich zu meinen Bohnen nur: Hinterher wird es mir leidtun, euch gegessen zu haben . Und tatsächlich saßen Margaret und ich uns am Ende des Essens peinlich berührt gegenüber, während unsere Mägen gastrointestinale Walgesänge aufführten. Ihrer gab hohe Quieklaute von sich, während meiner mit dumpfem Knurren antwortete. Auch während des Essens waren wir beide verlegen gewesen. Um uns nicht anstarren zu müssen, stierten wir auf unsere Teller oder irgendwo ins Zimmer und heuchelten Interesse für die Küchengeräte. Es war wie bei einem schlechten Date. Wie immer in solchen unpassenden Situationen drängte mich eine Stimme in meinem Kopf, mein »Waga Daga Duuuu!« loszulassen. Was wohl passieren würde, wenn ich mich über den Tisch beugte, sie in die Brüste kniff und dazu »Tut-tuuuut!« rief? Würde sie dann ihr Schweigegelübde brechen und reagieren? Sich weiter ihren Bohnen widmen? Ich konnte an nichts anderes denken. Als es überstanden war, stellten wir unsere schmutzigen Teller rasch auf das Tablett und zogen uns in unsere Hütten zurück. Die Uhr sagte mir, dass erst fünfzehn Minuten vergangen waren. Schon erstaunlich, wie schnell so ein Abendessen vorbei war, wenn man sich weder unterhielt noch eine Fernsehsendung dabei ansah.
Mein Zimmer war immer noch eiskalt, als ich zurückkam, also ließ ich mir ein Bad ein. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie Alice Whirlpools einbauen lässt, aber es gefiel mir. Ich drehte das Wasser so heiß wie nur möglich und stieg vorsichtig in die Wanne. Meine Haut verfärbte sich sofort zu einem fröhlichen Rosa. Ich lehnte den Kopf an die Wand und sprach ein kurzes Dankgebet, wobei ich mich fragte, ob ich wohl die Einzige war, deren Gebete sich anhörten wie eine Oscar-Dankesrede: »Ich möchte mich bei Gott für den Whirlpool bedanken. Echt, damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Äh … Befreit Tibet?«
Ich schloss die Augen und überlegte, was ich morgen tun wollte. Vielleicht das Labyrinth hinter dem Haupthaus erkunden? Als ich auf der Website darüber las, hatte ich mir einen Irrgarten mit meterhohen Wänden oder menschenfressenden Büschen vorgestellt, die sich wie von Geisterhand immer wieder umarrangierten, wie im Film. Doch als ich vorhin auf dem Weg zur Kapelle daran vorbeigekommen war, sah ich, dass es einfach nur ein gepflasterter Weg war. Trotzdem hatte ich vorher die Geschichte des Labyrinths recherchiert.
Im frühen Mittelalter gab es einen regelrechten Kathedralenboom in Europa. Und in zweiundzwanzig Kathedralen baute man Labyrinthe ein. Bis dahin hatte man die Pilgerreise nach Jerusalem als Glaubensverpflichtung betrachtet. Doch als das Zeitalter der Kreuzzüge anbrach, wurde die Reise gefährlich und konnte leicht tödlich enden. Die christlichen Führer kamen zu demselben Schluss wie alle schlauen Jugendlichen, wenn sie als Mutprobe nachts durch ein gefährliches Viertel laufen sollen. »Ach, weißt du was, wir lassen das, aber wir behaupten, wir hätten’s trotzdem gemacht, okay?« Also wurde beschlossen, dass ein Gang durchs Labyrinth als Ersatz für die Pilgerreise dienen konnte, wenn ein Gläubiger nicht in der Lage war, ins Heilige Land zu reisen.
Im Laufe der Zeit wurde das Labyrinth zur Metapher: Der Pfad ins Zentrum symbolisiert die Reise in die eigene Mitte. In seinen Verzweigungen verliert man jede Orientierung und lässt theoretisch alle Ablenkungen und Ängste der Außenwelt hinter sich. Sobald der Geist zur Ruhe
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