Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
legte ich den Mantel ab, zog ihn aber schnell wieder fröstelnd um mich. Das Thermostat zeigte 19 Grad an, und ich drehte es rasch auf 26.
Das findest du also kalt? , sagte ich zu mir. In genau drei Monaten würde ich auf den Kilimandscharo steigen, auf dem die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinken konnte.
Ich kniete mich neben den Kamin in der Ecke. Da ich keine Wärme an den Händen spürte, warf ich einen Blick hinein. Die Flammen waren nur Attrappe. Ebenso wie die Holzscheite, die mit Glitzer überzogen waren.
Lächelnd stand ich auf und entdeckte einen Rattantisch in der Ecke. Darauf stand ein neuer Fernseher mit Flachbildschirm. Daneben ein Schild, das fröhlich verkündete, dass man auch drahtloses Internet haben konnte. Ich hatte schon ganz vergessen, dass diese Einrichtung in der Feriensaison als ganz normales Hotel diente. Ich holte mein Handy heraus und erledigte einen letzten Anruf, bevor ich mich endgültig ins Schweigen zurückzog.
»Ich glaube, mein Kamin ist schwul«, sagte ich, als Matt abnahm.
»Was?« Im Hintergrund hörte ich das Summen der Redaktion in Albany.
»Vergiss es.« Ich ließ mich auf den ausgeblichenen Bettüberwurf fallen. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin.«
»Und, wie ist es so?«
»Ein bisschen beunruhigend, um ehrlich zu sein«, antwortete ich, während ich mich in der Hütte umsah. Ich bemerkte, dass sie an einer Seite eine Glasschiebetür mit einem nicht ernstzunehmenden Schloss hatte. »Wie in so einem Horrorfilm, in dem sie einen irgendwohin locken, um Experimente an einem durchzuführen, und dabei ganz genau wissen, dass fünf Tage lang keiner nach einem suchen wird. Und bis die Leute mich finden, sind meine Entführer bereits mit meinen Organen über alle Berge.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich fünf Tage lang deine Stimme nicht hören soll«, sagte er. Matt und ich hatten nie zu den Paaren gehört, die sich streiten und dann ein paar Tage lang nicht miteinander reden. Im Grunde stritten wir nie. Unseren schlimmsten Streit hatten wir in der Linie F der New Yorker U-Bahn, und danach schwiegen wir uns drei Stationen lang an.
»Ich auch nicht«, sagte ich und schluckte den Kloß, der mir in den Hals steigen wollte, schnell runter. Schlimm genug, dass ich fünf Tage die Woche sein Gesicht nicht sehen würde.
Nachdem wir aufgelegt hatten, schaltete ich widerstrebend mein Handy aus. Ich legte den BlackBerry auf den Schreibtisch und starrte das verbotene Elektronikgerät an. Nicht unbedingt die drei Versuchungen Christi, aber es würde mir schwerer fallen, ihnen zu widerstehen, wenn ich sie fünf Tage lang bei mir im Zimmer hatte.
Es klopfte an der Glastür.
Alice steckte den Kopf herein. »In ein paar Minuten fängt der Gemeinschaftsgottesdienst an. Du bist uns herzlich willkommen.«
Ich nickte, denn ich freute mich auf einen Schauplatzwechsel. Ich zog mir eine Hose an und folgte dem gepflasterten Weg zur St. Mary of Magdalena Chapel, einem hübschen kleinen Cottage hinter dem Hauptgebäude. Als ich eintrat, erschien Alice wie aus dem Nichts und drückte mir ein Gebetbuch in die Hand.
»Wir freuen uns sehr, dass du kommen konntest. Hier entlang bitte.« Auf den ungefähr dreißig Stühlen lagen Gesangbücher. In der Mitte der ersten Reihe saß eine untersetzte Frau Mitte fünfzig, die eine Brille und einen übergroßen Pulli trug.
»Das ist Margaret. Sie ist gestern gekommen«, erklärte Alice. Margaret und ich lächelten uns zum Gruß schweigend an. »Wollen wir anfangen?«
Mir gefror das Lächeln auf dem Gesicht. Moment, Moment – ich dachte, das wird hier ein Gemeinschaftsgottesdienst. Drei Leute sind doch wohl keine »Gemeinschaft«, oder? Das reicht ja nicht mal für ein Tennis-Doppel.
Alice erklärte, dass sie jeweils einen Vers singen und Margaret und ich die Antwort singen sollten. Ich hatte erst vor wenigen Monaten den Mut aufgebracht, vor anderen Leuten zu singen, und das war ein Rap-Song mit dröhnender Musikbegleitung gewesen – hier sollten zwei Personen a cappella singen. Margaret sah uns erwartungsvoll an, als sie ihr Gesangbuch aufschlug. Ich wollte schon höflich ablehnen, aber dann fiel mir ein, dass ich ja nicht sprechen durfte. Also begannen zwanzig schrecklich peinliche Minuten, in denen ich mich abmühte, nach Noten zu singen. Wenn ich versuchte, die hohen Töne zu treffen, fühlte ich mich so, als wenn man versucht, im Supermarkt eine Cornflakes-Schachtel aus dem obersten Regal zu holen. Es war eine
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