Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
dachte ich sehnsüchtig an meine Mutter. Ich wünschte, ich wäre zu Weihnachten nicht so harsch zu ihr gewesen. Je mehr ich in den letzten Monaten übers Sorgenmachen gelernt hatte, umso besser verstand ich, wie leicht es zur Sucht werden kann. Die Leute machen sich aus vielen Gründen Sorgen, sagte Dr. Bob. Wir glauben, dass wir irgendwann eine Lösung finden, wenn wir nur lang genug über ein Problem nachgrübeln. Sorgen vermitteln uns die Illusion, dass wir unsere Zukunft in der Hand haben. Wir fantasieren uns Worst-Case-Scenarios zusammen und glauben, dass wir schlimme Ereignisse verhindern können. Wir glauben, dass wir uns durch die Sorgen dazu motivieren können, die Dinge endlich mal anzupacken. Wir machen uns Sorgen über Prüfungen, weil wir glauben, dass wir uns dann eher zum Lernen aufraffen. Wir machen uns Sorgen um unsere äußere Erscheinung und hoffen, dass wir uns damit einen Antrieb liefern, Sport zu treiben oder unsere Diät einzuhalten. Und außerdem – auch wenn ich das nur schwer begreifen konnte – machen wir uns Sorgen, weil wir dann nicht mehr so viel Angst haben.
»Indem wir uns Sorgen machen, versucht der Körper, Angst zu unterdrücken«, hatte mir Dr. Bob bei unserer letzten Sitzung erklärt.
»Sind Angst und Sorgen denn nicht fast dasselbe?«
Er schüttelte den Kopf. »Angst ist eine emotionale Reaktion, die sich körperlich manifestiert. Sie wissen schon, Anspannung, beschleunigter Puls, Schweiß. Wenn man sich Sorgen macht, unterdrückt man diesen Erregungszustand.«
»Es ist also eine Art Verteidigungsstrategie?«
»Vorübergehend fühlen wir uns besser, also bleiben wir dabei.«
Auch am nächsten Tag regnete es unaufhörlich. Jeder Regenschirm war nutzlos, weil der kalte Wind die Tropfen so durch die Luft peitschte, dass sie sogar von unten kamen und einen wie nasse Kinnhaken trafen. Ich war froh, ein paar Eleanor-Bücher mitgenommen zu haben, und verbrachte den Tag damit, über ihre Einstellung zur Religion zu lesen. Ich wusste nur, dass sie ihr Lebtag der Episkopalkirche angehört hatte, und ich freute mich festzustellen, dass sich unsere religiösen Ansichten so ziemlich deckten. Jeder Mensch, schrieb sie, »hat die intellektuelle und spirituelle Pflicht, für sich selbst zu entscheiden, was er denkt, und sollte niemals die Ansichten anderer übernehmen, ohne selbst gründlich darüber nachgedacht zu haben.«
Sie fügte hinzu: »Wichtig ist nicht, zu welcher Nationalität oder Religion man sich bekennt, sondern wie sich der eigene Glaube im Leben niederschlägt.«
Ihre Ansichten waren für ihre Zeit sehr fortschrittlich. Wenn es um den Glauben eines Menschen ging, forderte sie nur eines: »Egal, wie ihr religiöser Glaube aussehen mag, er muss sie dazu anhalten, ein besseres Leben zu führen und sich allem, was die Zukunft bringt, mit heiterem Gemüt zu stellen.«
Dann stolperte ich über etwas so Schockierendes, dass mich das Buch in meinen Händen geradezu körperlich abstieß. 1920, im Alter von sechsunddreißig Jahren, schrieb Eleanor an ihre Schwiegermutter: »Ich würde mich lieber hängen lassen, als auf einer Versammlung gesehen zu werden, auf der sich hauptsächlich Juden befinden.« Noch 1939 schrieb sie an eine ehemalige deutsche Klassenkameradin, »es könnte notwendig sein, die jüdische Vorherrschaft einzudämmen«, aber sie gab zu, dass »es vielleicht auf humanere Art geschehen könnte, durch einen Herrscher mit Intelligenz und Anstand«.
Als die Zeit für unsere nachmittägliche Gebetsversammlung gekommen war, war ich froh, von Eleanor wegzukommen. In den letzten neun Monaten war sie eine Art Gottheit für mich geworden, und als ich jetzt so einen grässlichen Makel an ihr entdeckte, stürzte ich quasi in eine Glaubenskrise. Tat meine geliebte Verfechterin der Gleichberechtigung einen Menschen wie Hitler als dümmlichen Schulhofschläger ab? , fragte ich mich während unseres Gottesdienstes, der von Alices Ehemann Jim abgehalten wurde, der gerade von einer Geschäftsreise zurückgekehrt war. Er hatte Theologie studiert, und seine herrlich sonore Stimme übertönte mich total und bewahrte mich vor der Blamage beim Singen. Beim Abendessen trödelte ich, und hinterher bummelte ich zu meiner Hütte zurück, weil ich eigentlich gar keine Lust hatte, zu Eleanor zurückzukehren.
Stattdessen versuchte ich es mit Achtsamkeitsmeditation, die auf der buddhistischen Philosophie basiert, dass viel von unserem Unglück von unserem Bedürfnis herrührt, sich an
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