Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
musterte uns anerkennend: »Von hier aus sehe ich drei absolut radikale Typen. Schaut mal, wir sind so was von radikal, dass die Frau da sich gar nicht zu uns reintraut.« Er deutete auf eine Dame, die draußen auf dem Bahnsteig mit dem Handy telefonierte. Ich holte mein Skydiving-Zertifikat hervor, auf dem stand:
DAS LONG ISLAND SKYDIVING CENTER
VERLEIHT DIESES ZERTIFIKAT
ÜBER EINEN TANDEMSPRUNG AN
Noelle Hancock
DIE AM 9. MAI 2009 ZU EINER UNGLAUBLICHEN
REISE AUFBRACH, HOCH ÜBER DEM ERDBODEN
AUS EINEM FLIEGENDEN FLUGZEUG STIEG,
IHR SCHICKSAL DEM WIND IN DIE HÄNDE LEGTE
UND SICH IN DEN FREIEN FALL BEGAB.
MÖGEST DU IMMER BLAUEN HIMMEL ÜBER DIR HABEN,
UND MÖGE DEINE LANDUNG IMMER SANFT SEIN.
»Hört sich an, als wäre es aus Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit «, knurrte Bill. »Ist aber auch nicht sonderlich überraschend, wenn man bedenkt, mit was für Typen wir da zu tun hatten.« Er sah nach seinem wilden Flug mit Sebastian immer noch ein wenig gebeutelt aus.
»Die haben das definitiv geschrieben, als sie Gras rauchend in ihrem Wohnwagen mit der Piratenflagge saßen«, nickte Chris.
»Ach, komm, ich find das eigentlich total süß«, widersprach Jessica.
Überrascht drehten wir uns zu ihr, und sie errötete. »Ich meine, als ich so runterschwebte, kamen mir tatsächlich diese ganzen hippiemäßigen Gedanken à la ›Ich liebe das ganze Universum und jeden, der darin lebt.‹ Und es war wirklich ein absolut befreiendes Erlebnis.« Mit einem trotzigen kleinen Nicken fügte sie hinzu: »Und deswegen verstehe ich sehr gut, was sie meinen.«
»Ich hab noch eine Überraschung für euch dabei«, verkündete Chris und zog eine Flasche Rum aus seinem Rucksack. »Wollen wir feiern?« Wir nahmen jeder einen Schluck aus der Flasche und gaben sie dann weiter. Anschließend machten wir dasselbe noch mal.
Ich war so unglaublich zufrieden, dass mir fast ein bisschen wehmütig ums Herz war. Dasselbe Gefühl, das ich habe, wenn ich auf den letzten Seiten eines richtig tollen Buches bin – nostalgische Gefühle für einen Moment, obwohl er noch gar nicht vorbei war. Bald würde der Zug kommen und uns ruckzuck wieder in die Stadt befördern. Ich wünschte, ich könnte noch ewig an diesem Bahnhof mitten im Nirgendwo sitzen, zusammen mit den drei Leuten auf dieser Welt, die für mich jederzeit aus einem Flugzeug sprangen.
12. K APITEL
Reif ist jemand, der nicht nur in absoluten
Kategorien denkt, der objektiv bleiben kann,
auch wenn er emotional zutiefst aufgewühlt
ist, der gelernt hat, dass alle Leute und alle
Dinge gute und böse Seiten haben, der
bescheiden durch die Welt geht und sich
freundlich mit den Gegebenheiten seines
Lebens arrangiert.
Eleanor Roosevelt
»E s war total seltsam«, erzählte ich Dr. Bob, als er mich nach dem Skydiving fragte. »Als ich kurz davor stand, aus dem Flugzeug zu springen, hatte ich überhaupt keine Angst.« Ich strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und musste daran denken, wie die losen Strähnen in der Luft getanzt hatten, als die Tür des Flugzeugs aufgerissen wurde und der Wind hineinblies. »Ich bewahrte die Fassung und sagte mir: ›Du musst diese ganze schreckliche Feuerprobe nicht bis zum Ende durchstehen, du musst nur diesen Augenblick überstehen.‹ Wenn ich mir das Skydiving als eine Folge von beängstigenden Momenten vorstellte, gab es vielleicht drei Sekunden, in denen man wirklich Angst haben konnte – das war der Moment, in dem ich meinen Fuß auf die Stufe außerhalb des Flugzeugs setzte. Und als mir dieser Gedanke Angst machte, zoomte ich diesen Moment auf ein noch kleineres Format zusammen und konzentrierte mich nur noch auf meinen Schuh. Geistig war ich in einem superkontrollierten, aber trotzdem freien Zustand.«
Ich merkte, wie Dr. Bob mich wissend anlächelte. »Was? Warum schauen Sie mich so an?«, fragte ich.
»Sie haben Achtsamkeit praktiziert.«
»Tatsächlich?«, erwiderte ich verwundert. »Tatsächlich!« Da hatte ich mich nun monatelang an der Achtsamkeitsmeditation versucht, aber erst beim Fallschirmspringen hatte es klick gemacht.
Nachdem ich gelernt hatte, wie man mit körperlichen Ängsten fertig wird, wurde es Zeit, dass ich mich den emotionalen zuwandte, zum Beispiel meinen Ängsten bezüglich meiner Beziehung zu Matt, die ich seit dem Ausflug nach Nantucket relativ erfolgreich verdrängt hatte. In Beziehungen verbringen wir so viel Zeit damit, in die Zukunft zu schauen und vorauszuahnen, was auf uns zukommt. Vielleicht
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