Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
Haustür.
Emma spürte, wie eine Welle von Wut und Scham in ihr hochstieg. Sie stopfte das Mikro zurück in ihre Tasche und ging rasch zu ihrem Fahrrad.
Brandenburg, Hofsmünde
H ans Brinkmann legte eine letzte Schicht Bücher in den Karton und schloss die Klappen. Seine Knie schmerzten, und er setzte sich einen Moment auf die volle Kiste. Mit Fingern, grau vom Staub der Buchumschläge massierte er das Kniegelenk. Sein Blick ging über die halbvollen Reihen in den Regalen. Der Vorrat an Kisten, den er sich besorgt hatte, war bereits aufgebraucht. Allein die 20-bändige Kirchengeschichte auf dem obersten Brett würde zwei weitere Kisten brauchen. Brinkmann lächelte, als er zu den Bänden aufschaute. Hier hatte er seine Schätze aufbewahrt, und keiner der Stasi-Asseln hatte sich die Mühe gemacht, unter die rotgoldenen Einbände zu schauen. Der kom plette Grass stand hier, Böll, Heiner Müller, Thomas Bernhard und Volker Braun. Du und deine Männer, hatte Margarete immer gesagt, wenn er wieder bis tief in die Nacht über ein Buch gebeugt blieb, warum lässt du dir nicht mal Ulla Hahn einschmuggeln, oder die Österreicherin, diese Elfriede Jelinek?
Jelinek, das fehlte noch, schließlich war er ein Mann der Kirche. Brinkmann hörte auf, sein Knie zu massieren, es nutzte doch nichts. Wie hätte er damals wissen können, dass dies die guten Zeiten waren – als Margarete noch lebte und er sich mit Lukas stritt. Immer gab es Türenknallen, Vor würfe und Widerworte, und er hatte sich nach Ruhe ge sehnt. Und dann war Margarete gestorben. Lukas lebte in Berlin, und die Stille, die jetzt im Haus herrschte, erschien ihm lauter als jeder Streit. Ob sie Lukas einen Brief hinterlassen hatte? Lange hatte er sich nicht zu fragen getraut und dann von seinem feindseligen Kind keine Antwort erhalten. Aber was hätte sie schreiben können? Der Krebs hat gewonnen, aber du hast mich schon vorher besiegt? Schreibt man so etwas seinem fünfzehnjährigen Sohn?
Brinkmann nieste von dem Staub, der auf den Büchern lag. Er seufzte. Damals hatten er und Lukas sich nur noch angeschrien. Sie führten einen Kampf um jedes Flugblatt, das der Junge mit nach Hause brachte, um seine Klamotten, seine fremdenfeindlichen Sprüche, die er am Küchentisch fallen ließ. Lass doch, hatte Margarete geflüstert und ihre Hand auf seinen Arm gelegt, merkst du nicht, dass er dich nur provozieren will? Aber er hatte nicht aufhören können, nicht aufhören wollen, obwohl er wusste, dass seine Frau nicht mehr die Kraft für diese täglichen Kämpfe hatte.
Er hörte Schritte, dunkle Männerstimmen, Flüstern. Ächzend erhob er sich und zog den Vorhang vor dem großen Fenster beiseite. Sie sollten nicht glauben, dass er sich vor ihnen verkroch! Aber Lukas’ Anruf heute früh hatte ihn doch verunsichert. Er sollte alles zuschließen, vorsichtig sein. Planten sie wieder etwas gegen ihn? Seit Beginn des Wahlkampfes waren schon zweimal Steine gegen die Scheibe geflogen, einmal war ein Riss im Glas gewesen. Zum Glück fror es nachts nicht mehr, sonst würde die Scheibe wohl zerbrechen. Er hatte Anzeige erstattet, aber was nützte das schon.
Es läutete, einer der Männer klopfte kräftig gegen das Holz der Eingangstür. Überrascht trat Brinkmann aus dem Wohnzimmer in den dunklen Flur und ging rasch zur Tür. Vielleicht brauchte ihn jemand im Dorf, hatte nach ihm verlangt, seinen Beistand erbeten. Er riss die Tür auf. Vor ihm standen zwei fremde Männer, einer davon in Polizeiuniform. Brinkmann atmete aus, die Enttäuschung stach in den Lungen. Diese Männer wollten garantiert nicht seine Hilfe. Sie erinnerten ihn vielmehr an die Trupps der NVA, die früher Lukas nach Hause gebracht hatten. Verlegene Polizisten, selber Väter, die schnell ihre Pflicht erfüllen wollten. Und zwischen ihnen Lukas, mit kurz geschorenen Haaren und in zusammengeliehenen Nazi-Uniformen, manchmal blutig geschlagen oder in Handschellen, aber immer den Blick hochmütig über ihn hinweggerichtet. Lukas war jetzt erwachsen, solche Dummheiten machte er nicht mehr oder wenn, wurde sein alter Vater nicht mehr benachrichtigt, es sei denn …
»Hans Brinkmann? Pastor Brinkmann?«
Es war der Mann im Zivilanzug, der sprach. Brinkmann nickte. Hinten im Garten unter der alten Linde raschelte es. Auch der Uniformierte hatte es gehört, er drehte sich um. Der Mann in Zivil räusperte sich.
»Wir haben leider eine traurige Nachricht für Sie. Es geht um Ihren Sohn Lukas.«
Berlin, Charlottenburg.
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