Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
die meisten warteten einfach ab. Eine seltsame Stille lag über allem. Emma kam es vor, als wäre die Welt in Wachs gegossen, und nur sie schaffte es, durch die schwere zähe Masse voranzukommen. Ihr Herz klopfte hart, und sie hatte Angst. Aber das Gefühl, die Frau zu verstehen, trieb sie voran. Nach ein paar Minuten war sie nahe genug, um hören zu können, was sie sprachen. Gesine Lorenz drehte ihr den Rücken zu, das Telefon mit dem silbernen Klebeband leuchtete in der kalten Märzsonne. Emma rief:
»Ich weiß, dass Sie wütend sind. Ich verstehe das.«
Ganz langsam drehte sich Gesine Lorenz zu ihr um, ohne Achims Gürtel loszulassen. Sie sagte:
»Keiner redet mehr von Marlon. Alles soll weitergehen, als wäre nichts passiert.« Die Frau schluchzte auf. Ihre Stimme klang zittrig, als wäre sie kurz vorm Zusammenbruch.
Emma kam vorsichtig näher, dann blieb sie wieder stehen.
»Sie können nicht vergessen. Sie können nicht mehr schlafen. Alle sollen es wissen. Ich verstehe Sie. Aber wenn Sie das jetzt tun, dann weiß niemand, warum. Dann denken alle, Sie sind nur eine Verrückte.«
Gesine Lorenz war jetzt ganz Emma zugewandt, sie hörte ihr zu und schien zu überlegen. Blume trat langsam näher. Als er nur noch wenige Meter von der Lehrerin entfernt war, streckte er die Hand aus und sagte laut: »Geben Sie mir den Zünder.«
Die Frau fuhr herum und lachte. Es klang wie ein wütendes Fauchen.
»Sie stecken doch mit denen unter einer Decke! Sie haben doch dafür gesorgt, dass Marlons Tod vergessen wurde! Sie wollen Achim schützen.«
»Das war ein Fehler. Das weiß ich jetzt.« Blume kam noch einen Schritt näher.
»Bleiben Sie stehen!« Sie schrie es, und durch die Menge ging ein Zucken. »Ich traue Ihnen nicht!«
Emma streckte sich und rief mit klopfendem Herzen: »Dann erzählen Sie uns, was passiert ist!«
Alle Köpfe fuhren zu ihr herum. Emma hätte gern Blume angesehen, aber sie hielt den Blick starr auf Gesine Lorenz. »Kommen Sie, erzählen Sie es der ganzen Stadt.« Emma ging auf die Lehrerin zu, dabei sprach sie weiter halblaut in ihr Mikrofon. »Ich stehe jetzt vor Gesine Lorenz.«
Die Lehrerin starrte Emma entgegen. Sie schien nicht sicher, was sie tun sollte. Emma hob das Gerät hoch, ohne den Blick von der Lehrerin zu lassen. Langsam ging sie auf die Frau zu.
»Wir sind auf Sendung, Frau Lorenz. Die ganze Stadt hört zu. Sie können alles öffentlich machen, nichts wird mehr verheimlicht.«
Emma hielt das Mikrofon in ihre Richtung.
»Sie haben Ihren Geliebten verloren, nicht wahr? Ihren jungen schönen Geliebten Marlon.«
Gesine Lorenz starrte sie an. »Ich hätte ihn nicht lieben dürfen.« Emma sagte: »Nein. Aber wie kann man sich wehren gegen die Liebe?«
»Lukas hat mich gewarnt. Niemand verlässt mich, hat er gesagt. Ich dachte, er zeigt mich bei der Schulleitung an, aber er wusste, dass mich das nicht aufhalten konnte.«
Die Frau atmete geräuschvoll ein, als bekäme sie nicht genug Luft. »Lukas dachte, er könnte die Liebe erzwingen. Damals schon. Er und sein Freund Christian waren wie Brüder, aber sein Vater liebte den anderen mehr. Lukas hat es mir erzählt.«
Sie sah starr zu Emma, als erzählte sie es nur ihr allein.
»Also hat er ihn aus dem Weg geschafft. Er hat ihn mitgenommen zu diesem Konzert und hinterher ausgesagt, Christian sei der Rädelsführer gewesen.«
Blume trat leise vor und zog August und Heike vom Grab weg.
Die Lehrerin ließ den Arm sinken.
»Er hat es mir erzählt, bei einem Glas Wein. Wir waren ausgegangen, ich wollte erst nicht, aber er meinte, es wäre wichtig. Er erzählte die Geschichte wie eine lustige Anekdote.«
Emma sagte leise: »Es war eine Warnung.«
»Ja. Er sagte, niemand kommt ihm ungestraft in die Quere. Er würde Marlon erledigen, wenn ich mich weiter mit ihm treffen würde.«
»Aber Sie haben nicht aufgehört, Marlon zu sehen.«
Die Lehrerin weinte. Leise sagte sie: »Ich wollte es. Ich hab ihm gesagt, dass es vorbei sein müsste. Aber es ging nicht.«
Emma kam noch einen Schritt näher. Sie sagte:
»Und dann war Marlon tot. Gefunden mit einer Überdosis auf dem Bürgersteig.«
Die Frau weinte jetzt heftiger. Sie schlug mit der Hand, in der sie den Zünder hielt, gegen den mächtigen Leib von Achim. Er stand starr vor Angst da. Emma redete schnell weiter.
»Also haben Sie dem Bürgermeister alles erzählt. Die alte Geschichte. Wer ihn damals ins Gefängnis gebracht hat.«
Die Lehrerin hielt inne. Sie keuchte, ihre
Weitere Kostenlose Bücher