Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
wusste natürlich auch Andreas. Der Wortlaut »in der nächsten Stunde« war reine Taktik, Andreas blieb mit Absicht so vage, damit Hörer, die an dem Gespräch interessiert waren, nicht zwischendurch den Sender wechselten.
Im Stehen aß sie ein Knäckebrot mit Butter und Salz und schaute dabei aus dem Fenster. 12 Stockwerke unter ihr war Rushhour, die Autos hupten und drängelten auf der vierspurigen Straße rund um den Alex, und die Fahrradfahrer kurvten todesmutig auf kaum ausgewiesenen Radwegen an den Schlangen vorbei.
Ein halbes Jahr wohnte Emma hier jetzt schon. Aus dem anfänglichen Provisorium war eine Zwischenlösung geworden. Teilmöbliert hatte in der Anzeige gestanden, zentral und billig war es auch. Im Winter pfiff es durch die Waschbetonrillen, in der Spüle wohnten Kakerlaken, und im Fahrstuhl stank es nach Urin. Blume nannte es das hässlichste Haus in Berlin und fragte sie, wie sie so wohnen konnte. Ihr war das nicht wichtig. Es gefiel ihr, nirgendwo anzukommen, es entsprach ihr. Die guten Nachbarn, auf die Blume Wert legte, hätten sie nur mit schrägen Augen angesehen. Im Grunde fühlte sie sich immer noch auf der Flucht, obwohl der Rundfunkrat sie rehabilitiert hatte. Offiziell war ihr am Tod von Jenni keine Mitschuld zugesprochen worden. Dennoch wusste sie, dass sie nicht mehr unbeschwert in ihrer Heimat leben konnte. Sollten die Bremer ihr auch verzeihen, sie selbst würde immer mit gesenktem Kopf durch die Straßen laufen. Und eine Journalistin, die die Öffentlichkeit meidet, ist so gut zu gebrauchen wie eine Kakerlake im Spülbecken.
Emma zog sich eine Mütze über die noch feuchten Haare, schnappte sich Mantel und Tasche und verließ die Wohnung. Auf dem Weg zur Treppe strich sie mit den Fingern über das Lämmchen-Poster an der Tür des Nachbarn. Das Apothekenposter hatte einmal Penelope gehört, ihrer kleinen Nachbarin. Kurz vor Weihnachten war ihre Mutter mit ihr nach Süddeutschland gezogen. Jetzt wohnten hier unter der Woche polnische Handwerker auf Montage.
Auf dem Weg zum Funkhaus hörte sie mit ihrem iPod das Radioprogramm. Unter den Linden drehte sie wegen des Verkehrs die Lautstärke nach oben. Sönke, der Frühmoderator, kündigte den Ü-Wagen an. Noch einmal Wetter und Verkehr und dann noch ein Lied. Emma bog in den Tiergarten ein. Hier war es ruhiger, sie konnte die Lautstärke herunterpegeln. Sönke war wieder on air, er leitete mit der etwas lahmen Frage, wen die Reporterin denn schon hatte sprechen können, zum Ü-Wagen hinüber. Die Fragen waren in der Regel abgesprochen, damit der Reporter vor Ort sinnvoll einsteigen konnte. Sönke machte sich manchmal einen Spaß daraus, den Ablauf spontan zu ändern. Er selbst war ein Meister der schnellen Reaktionen und weidete sich dann an der Unbeholfenheit des Reporters, in Sekundenschnelle das Konzept seiner Reportage ändern zu müssen. Schneider hielt wenig von solchen Nachhilfestunden in der laufenden Sendung und hatte Sönke dazu verdonnert, an Samstagnachmittagen den Volontären Mikrofon-Nachhilfe zu geben. Seitdem hielt sich Sönke meistens an die Absprachen.
Ingrid meldete sich jetzt aus dem Ü-Wagen vor der Schule. Sie sprach von einem Meer aus kleinen Blumensträußen, von Lehrerkollegen, denen die Tränen in den Augen gestanden hatten, und von verstörten Kindern. Ingrid übertrieb gerne etwas. Die Chefs liebten sie, weil sie den Hörer emotional ansprach, aber Emma traute ihren Schilderungen nicht. Ging es nach Ingrid, wurde der Lehrer kaum weniger betrauert als Lady Di.
Jetzt kamen die Umfragen. Da es bereits nach acht Uhr war, hatte Ingrid die Interviews aufgezeichnet. Emma fuhr gerade am riesigen CDU-Parteigebäude vorbei, das wie ein Schiffsbug in die Klingelhöfer Straße hineinreichte. Ein Lastwagen donnerte an ihr vorbei, so dass sie die stammelnden, schwer zu verstehenden Worte eines Schülers nicht mitbekam. Es gefiel ihr nicht, dass Ingrid Kinder zu dem gewaltsamen Tod eines Lehrers befragt hatte, aber sie musste zugeben, dass die Kollegin sich Mühe mit den Interviews gegeben hatte – es war sicher nicht leicht gewesen, die Menschen zum Reden vor das Mikrofon zu holen. Sie wunderte sich nur, dass keiner der Beteiligten etwas zu den rechtsradikalen Ansichten des Verstorbenen sagte. Auch Ingrid erwähnte es nicht.
Der Beitrag war zu Ende, Sönke übernahm mit der Zeitansage und fuhr einen ruhigen Titel ab.
Als Emma unten im Einkaufszentrum ihr Fahrrad abschloss, sah sie aus den Augenwinkeln den Ü-Wagen
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