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Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)

Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Lanfermann
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ich es gesehen habe.«
    »Dann kommen Sie her. Ich muss zur Vierten wieder in den Unterricht.«
    Emma meldete sich bei Sebastian ab und versprach Andreas, einen Ton von der Rektorin für die Nachrichten mitzubringen. Bente war nirgends zu sehen. Emma nahm Jacke und Tasche und ging auf den Flur zu Schneiders Zimmer, um ihn zu informieren. Seine Tür war angelehnt, er war nicht im Raum. Emma ging hinein und stellte sich vor den Schreibtisch. Die Heizung summte, sie war voll aufgedreht. Trotzdem war es kalt im Zimmer, das Fenster stand oben offen.
    Wie immer versank die Arbeitsfläche unter einem Meer von Papieren – Manuskriptausdrucke, Memos, Umlauf mappen, aktuelle und alte Zeitungen, dazwischen gelbe Post-its und Tabakkrümel. Es war Emma schleierhaft, wie Schneider in dem Chaos irgendetwas wiederfand, und tatsächlich waren immer wieder wichtige Termine versäumt worden, weil niemand davon in Kenntnis gesetzt worden war. Emma hatte das im letzten Herbst am eigenen Leibe erfahren – sie war fast in die Hände einer Mörderin gefallen, weil ihr Hilferuf an Schneider in den Papierbergen untergegangen war.
    Emma hörte die Tür nebenan – das Männerklo – zuklappen, Schneider näherte sich mit tappenden Schritten und seinem Dauerhusten. Auf einmal erschien Emma der mächtige Chefredakteur alt. Er war wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, als Sekretärinnen mit nachsichtigem Lächeln das kreative Chaos in der Redaktion bändigten, als Texte noch diskutiert und redigiert worden waren, als ein Journalist sie schrieb, ein Sprecher sie aufsagte und ein Techniker sie auf Tonbänder aufnahm, die dann respektvoll zum Sendestudio getragen wurden. Heute mussten die Mitarbeiter alles in einem sein – sie schlugen die Themen vor, recherchierten und setzten sie um. Beiträge wurden, ohne dass noch jemand darauf geschaut hatte, in einen digitalen Speicher geschoben, aus dem sich Redaktionen in ganz Deutschland bedienen konnten, sie verkürzten, stellten um oder schnitten nur einen Interview-O-Ton heraus, ohne dass es der Urheber auch nur mitbekam. Das oberste Gebot war die Aktualität, sorgfältiges Recherchieren zweitrangig. Schneider mit seinen aufgehobenen Zeitungsartikeln, mit seinem Beharren auf grammatikalische Korrektheit und seiner Ignoranz gegenüber dem Rauchverbot wirkte wie Pacman auf Facebook.
    »Emma! Ist noch was?«
    Schneider kam herein und ging an Emma vorbei hinter seinen Schreibtisch.
    »Ich fahr jetzt los. Die Direktorin gibt mir ein Interview.«
    Schneider ließ sich in seinen Stuhl fallen und wühlte in den Papieren vor ihm.
    »Denk an die Nachrichten.«
    »Klar.« Emma drehte sich um und machte ein paar Schritte. An der Tür zögerte sie. Sie warf einen Blick auf Schneider. Er hatte jetzt unter einem Stapel alter Zeitungen seine Zigaretten gefunden. Mit einem Seitenblick auf Emma zog er sie hervor und stand auf, um an das geöffnete Fenster zu gehen. Er spürte ihren Blick, sah zu ihr rüber und schwieg. Emma kratzte sich an der Nase.
    »Am Wochenende kommen Helene und Ida mich besuchen.«
    »So.« Mit einem Ruck öffnete er das Fenster vollständig. Ein Schwall kalter Luft zog ins Zimmer. Schneider nahm eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an und inhalierte tief. Er sah aus dem Fenster und schien in Gedanken versunken. Emma wandte sich schon zum Gehen, als er sich zu ihr umdrehte und meinte:
    »Hat sie immer noch so lange schwarze Haare? Helene, mein ich.«
    Emma lachte leise.
    »Nein, sie hat jetzt kurze graue. Wie lang habt ihr euch nicht gesehen?«
    Schneider sah wieder aus dem Fenster.
    »Damals, als deine Eltern sich trennten. Da hab ich sie zuletzt gesehen. Sie kam ja nicht mal zur Beerdigung von ihm.«
    Er nahm einen Zug. »Keine von euch.«
    Emma schluckte. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als Ida, ihre kleine Schwester, gerade geboren war. Sie selbst stand mitten im Abitur, ihre Mutter war Mitte vierzig und hatte das Kind gegen den Willen des Vaters ausgetragen. Emma erinnerte sich gut an diese Wochen, die erschöpfte Mutter, das behinderte Baby, der Vater, der immer öfter mit lautem Türenknallen das Haus verließ, und sie selbst, die sich hinter Matheformeln und französischen Vokabeln verkroch. Emma sagte:
    »Helene ist alt geworden.«
    Schneider lachte leise und stieß den Rauch aus. Er sah sie an.
    »Oh grausame Jugend. Helene ist Helene. Keiner konnte ihr das Wasser reichen.«
    Emma wusste nicht, warum sie die Worte Schneiders ärgerten. Vergangenen Herbst, als er

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