Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
abgerutscht und hatten sich schuldig gemacht. Und jetzt hatte auch August die Seiten gewechselt.
Die Musik verstummte. Der Pastor wischte sich über die nassen Wangen und wartete. Der Mann bahnte sich einen Weg durch das Gerümpel und kam die Treppe herunter, wie in all den Jahren knarrten die Stufen unter seinen Schritten. Er ging zum Pastor, setzt sich ihm zu Füßen und legte seinen Kopf an dessen Knie. Der alte Mann streichelte langsam und ruhig über die Haare. Der junge sagte:
»Gott sei mir Sünder gnädig.«
Der Pastor hörte auf, dem Mann über den Kopf zu streicheln. Er schob ihn beiseite, dann erhob er sich mühsam und trat aus der Bank.
»Für Gottes Vergebung bin ich nicht mehr zuständig.«
Der Mann blieb auf dem Boden, den Kopf tief gesenkt. Pastor Brinkmann sah ihn an und seufzte. Dann wandte er den Blick ab und betrachtete das helle Muster an der Stelle im Kalkstein, an der früher das Kreuz gehangen hatte. Wer braucht schon ein Bild, dachte er. Wer braucht Holz und Marmor, wer braucht Weihrauch und Kerzenduft? Die Liebe zu Gott ist körperlos. Er hatte geglaubt, und jetzt tat er es nicht mehr.
Er stellte den Stuhl zurück in die Sakristei, nahm seinen Besen und ging in Richtung Nebenausgang. Als er schon fast an der Tür war, hob der Mann, der noch immer auf dem Boden kniete, den Kopf und rief: »Aber nur du kannst mich verstehen. Du weißt, wie er war – und was er mir angetan hat.«
Pastor Brinkmann sagte ruhig:
»Thomas, ich verstehe dich. Ich weiß, was er dir und allen, die ihn liebten, angetan hat. Er war dein Freund, und er hat dich verraten. Es war nicht richtig, was du getan hast, aber glaube mir. Ich verstehe dich wirklich.«
Der Mann stand mühsam auf. Dann ging er mit steifen Schritten am Pastor vorbei zum Ausgang. Als er dicht vor dem altem Mann stand, sagte er: »Nenn mich nicht Thomas. Der bin ich schon lange nicht mehr.«
Berlin, Kreuzberg
B ullshit. Das ist Bullshit. Und Sie verbreiten das auch noch.«
Konrad Weiß zündete sich eine Zigarette an. Er hatte sie in eine der Kneipen bestellt, in denen auch tagsüber noch geraucht werden durfte. Es stank nach kaltem Rauch, Emma fühlte sich unwohl. Aber sie akzeptierte seine Wahl. Sie wollte etwas von ihm.
»Warum sagen Sie das?«
Sie hatten über Lukas Brinkmann geredet, über die Aus sage der Rektorin, sie hätte alles unternommen, um ihn rauszuwerfen.
»Weil es nicht stimmt. Haben Sie das überprüft?«
»Sie ist gegen ihn vor Gericht gegangen.«
»Verwaltungsgericht, erste Instanz. Dann hat sie den Schwanz eingezogen.«
Emma sah ihn erstaunt an.
»Sie kennen die Akte?«
»Sicher. Mögen Sie auch einen Kaffee?«
Emma nickte, und Weiß machte dem Mann hinter dem Tresen ein Zeichen. Dann nahm er noch einen Zug von der Zigarette.
Während er den Rauch ausstieß, wühlte er in seiner Tasche und zog eine Mappe mit Zeitungsausschnitten heraus.
»Hier.«
Emma überflog den Artikel, den Weiß ihr reichte. Er handelte von einem Hamburger Lehrerehepaar. Beide waren Mitglieder der NPD . Beide wurden aus dem Schuldienst entlassen. Emma sah hoch.
»Störung des Betriebsfriedens?«
Weiß nickte.
»Leiter von staatlichen Schulen können damit vor Gericht durchkommen. Bei dem Mann lag der Fall anders. Er war an einer Privatschule angestellt und wurde fristlos entlassen.«
»Kennt die Rektorin von Brinkmann den Fall?«
»Ich habe selbst mit ihr darüber gesprochen. Sie hat sich rausgeredet. Es ist ihr einfach zu teuer.«
»Was ist zu teuer?«
Der Wirt kam mit den zwei Tassen Kaffee. Wortlos stellte er sie ab und schlurfte wieder zu seiner Zeitung zurück, die auf der Theke lag. Weiß grinste. »Ich hoffe, Sie haben hier nicht Latte Macchiato oder so etwas erwartet.«
Emma zog eine Tasse zu sich.
»Nein. Nein. Was ist zu teuer?«
Weiß lehnte sich zurück.
»Sie hätte Brinkmann suspendieren können, aber nur bei vollem Bezug seiner Leistungen. Vielleicht jahrelang.«
Emma nickte in ihre Tasse hinein. Dann sah sie auf.
»Er wäre freigestellt bei vollem Gehalt. Jede Menge Zeit für Parteiarbeit, finanziert mit Steuergeldern. Halten Sie das für richtig?«
Weiß sah sie erstaunt an.
»Was ist die Alternative? Lehrer, die den Kindern einen Hass auf Ausländer einimpfen? Im Geschichtsunterricht Auschwitz verschweigen und in Musik alle drei Strophen der Nationalhymne singen?«
Emma schwieg und trank von ihrem Kaffee.
Weiß sah aus dem Fenster, und sie folgte seinem Blick. Es war dunkel geworden. Gegenüber
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