Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
sich durch, doch als die Zeiten schlecht wurden, verwandelte sich seine Musik in Kakophonie.
Im Oktober 1929 sorgten ein wenig Stümperei, ein Haufen Pech und die Abwesenheit eines Dirigenten dafür, dass eine Blase am amerikanischen Aktienmarkt zu einem internationalen Finanzdesaster wurde. Die Ansteckung raste um die kapitalistische Welt: Banken stürzten, Kredite verdampften und Währungen brachen zusammen. Nur wenige litten Hunger, doch Weihnachten 1932 war jeder vierte amerikanische Arbeiter ohne Job. In Deutschland war es eher jeder zweite. Die Schlangen fahlgesichtiger Arbeitsloser, »die ihrem Schicksal mit der gleichen stummen Verwunderung entgegensahen wie ein Tier in der Falle« 44 , wie der englische Journalist George Orwell schrieb, wurden immer länger.
Zumindest bis Mitte der 1930er Jahre machte alles, was die liberalen Demokratien taten, die Lage nur noch schlimmer. Nicht nur schienen die westlichen Kerngebiete über das Entwicklungsparadox gestolpert zu sein, es sah auch so aus, als kämen nun anderswo die Vorteile der Rückständigkeit ins Spiel. Russland, jahrhundertelang ein sehr zurückgebliebenes Land an der Peripherie, hatte sich als kommunistische Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken neu konstituiert. Wie die Vereinigten Staaten fügte es einem riesigen landwirtschaftlichen Hinterland einen aufstrebenden industriellen Kern hinzu, doch anders als jene betrieb |512| es eine Politik der Verstaatlichung und Kollektivierung der Landwirtschaft unter zentralistischer Planung. Die Sowjetunion mobilisierte ihre Menschen eher wie ein moderner westlicher Staat als ein altes dynastisches Reich, aber ihre Autokraten Lenin und Stalin regierten mehr wie Zaren denn demokratische Präsidenten.
Die Sowjetunion war eine Art Anti-Amerika: ein subkontinentales, aber entschieden illiberales Reich. Während Stalin Gleichheit predigte, schuf er durch Zwangsumsiedlung von Millionen seiner Genossen innerhalb seines Reiches und die Inhaftierung einer weiteren Million in Gulags eine zentralistische Wirtschaft. Ideologisch verdächtige ethnische Gruppen und Klassenfeinde (was häufig dasselbe war) fielen Säuberungen zum Opfer. Und anders als die scheiternden kapitalistischen Wirtschaften ließ die erfolgreiche Sowjetunion tatsächlich zehn Millionen ihrer Untertanen verhungern. Dennoch machte Stalin eindeutig etwas richtig, denn während die kapitalistische Industrie zwischen 1928 und 1937 zusammenbrach, vervierfachte sich die sowjetische Produktion. »Ich habe die Zukunft gesehen, und sie funktioniert« 45 , verkündete der Journalist Lincoln Steffens in einem berühmt gewordenen Ausspruch seinen amerikanischen Landsleuten nach einem Besuch der Sowjetunion. 1*
Anfang der 30er Jahre schien vielen die wahre Lektion des Ersten Weltkriegs nicht darin zu liegen, dass der liberalen Demokratie die Zukunft gehörte. Die anglo-franko-amerikanische Allianz, so glaubten sie, hatte vielmehr
trotz
, nicht wegen ihres Liberalismus gewonnen. Die wahre Antwort schien ein subkontinentales Reich zu sein, je weniger liberal, desto besser. Japan, das so sehr von der Nachahmung liberaler Modelle profitiert hatte, änderte seinen Kurs, als die Weltmärkte und ihre handelsorientierte Wirtschaft ins Trudeln gerieten. Angesichts einer stark anschwellenden Arbeitslosigkeit, einer wackeligen Demokratie und zunehmender kommunistischer Agitation traten Militaristen auf den Plan und forderten lauthals ein Reich, von dem Japan leben könnte. Die Armee – insbesondere ihre radikalen jüngeren Offiziere – liefen völlig aus dem Ruder und nutzten die Verwirrung der westlichen Demokratien und den Bürgerkrieg in China, um die Mandschurei zu annektieren und auf Beijing zuzumarschieren. »Nur durch die Herbeiführung einer japanisch-mandschurischen Kooperation und japanisch-chinesischer Freundschaft«, erklärte ein Oberstleutnant, »kann das japanische Volk zum Herrscher Asiens werden und darauf vorbereitet sein, den letzten und entscheidenden Krieg gegen die verschiedenen weißen Rassen zu führen.« 46
Bis zu einem gewissen Grad funktionierte der Militarismus. Japans Wirtschaft wuchs in den 1930er Jahren um 72 Prozent, allein die Stahlproduktion stieg um das Achtzehnfache. Aber auch hier waren die Kosten hoch. »Kooperation« und |513| »Freundschaft« bedeuteten häufig Sklaverei und Massaker, und selbst nach den niedrigen, unlauteren Maßstäben jener Zeit war die Brutalität der Japaner schockierend. Des weiteren war 1940 klar, dass die
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