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Wer schön sein will, muss sterben

Wer schön sein will, muss sterben

Titel: Wer schön sein will, muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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er einen Bienenstachel aus meinem Fuß entfernt hatte. »Ich weiß, dass du nicht feige bist«, sagte er.
    Ich war es. Ich war wirklich und eindeutig feige. Aber vor ihm, der lächelnd auf mich herabblickte, mit lockigen braunen Haaren und blauen Augen, umrandet von langen, dunklen Wimpern, wollte ich mich nicht blamieren. »Na los«, sagte er und lächelte breiter.
    Um ihm zu gefallen und das Gesicht zu wahren, sprang ich. Zuerst war es toll. Bonnie hatte mich angelogen. Ich lachte, über meine Angst, über meine Dummheit und voller Freude darüber, im kühlen Wasser zu sein.
    Und dann spürte ich es. Erst eine und dann noch eine ölige Schlinge streifte meine Haut. Was als kriecherisches Streicheln begann, waren bald zahlreiche schleimige Bänder, die sich um meine Knöchel wickelten. Ich spürte, wie sich die langen Schlingpflanzen um meine Waden und Oberschenkel wanden wie Seehexen, die mit gierigen Fingern nach meinen Füßen griffen und versuchten, mich in ihre unterirdische Höhle zu ziehen. Je mehr ich mich wehrte, desto fester ergriffen sie mich.
    Hör auf zu kämpfen, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Dir wird nichts passieren.
    Aber ich konnte nicht. Ich kämpfte und kämpfte, wurde schwächer, bis ich nicht mehr konnte. Mein Körper, fast atemlos, wurde schlaff. Ich hörte auf, mich zu bewegen.
    Und dann, wie durch ein Wunder, war ich frei. Die Schlingen lösten sich. Ich kam davon.
    Meine Lungen verlangten nach Luft, meine Brust war wie eingeschnürt. Ich trat mit aller Kraft, streckte die Arme aus und teilte das grünlich-braune Wasser um mich herum. Da, über mir, sah ich einen schimmernden Sonnenstrahl. Mit letzter Kraft durchbrach ich die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft, triumphierend, dass ich mich zurück ins Leben gekämpft hatte.
    Ich öffnete die Augen und blinzelte das Wasser hinaus. Ein boshafter Blick traf mich, sobald ich etwas erkennen konnte.
    »Du dumme Schlampe, ich hasse dich.« Ich kannte die Stimme, wusste aber nicht, wem sie gehörte. »Leb wohl, Jane.«
    Eine Welle unerträglichen Schmerzes durchfuhr mich, eine Hand stieß mich wieder hinunter, drückte mich in das braune Wasser, zurück in die Dunkelheit, zu den Pflanzen. Tentakeln griffen nach mir, nahmen mich gefangen. Meine Arme und Beine waren gefesselt. Wasser lief in meinen offenen Mund, meine Kehle brannte, ich konnte nicht atmen, da war ein langes Wehklagen, und jemand sagte: »Tauch sie wieder unter!« und …
    Alles schwarz.

    Kratzen.
    Eine Frauenstimme. »Mr Carl St. James. Weiße Lilien in einer grünen Vase.«
    Wieder Kratzen.
    »Nicola di Savoia. Luftballonstrauß in Pinktönen mit einem Krokodil aus Glanzfolie.«
    »Familie Pontrain vom Autohaus. Ein Jumbo-Becher mit Popcorn in vier Geschmackssorten.«
    Eine Männerstimme. »Das ist doch was für mich. Kannst du das bitte übergehen, Rosie?«
    Ich hasse es, wenn Joe meine Mutter so nennt. Das war das Erste, was ich dachte, als ich das zweite Mal zu Bewusstsein kam. Noch bevor mir bewusst war, dass ich hören konnte, dass ich wach war, dass es diesmal Wirklichkeit war.
    Ich riss die Augen auf und sah ihn, meinen zukünftigen Stiefvater, wie er gerade Popcorn in sich hineinstopfte.
    Meine Mutter saß auf einem blau gepolsterten Stuhl neben ihm, die Beine nebeneinander, die Füße gekreuzt – eine Position, die sie als entspannt, aber respektvoll beschrieb, als sie sie mir und meiner Schwester Annie beibrachte. Sie trug Jeans mit perfekter Bügelfalte, eine weiße Seidenbluse mit Schleife am Hals und eine Anstecknadel in Form der amerikanischen Flagge. Sie war gertenschlank und sah trügerisch zerbrechlich aus. Ihr Haar war zu einem perfekten Bob mit geradem Pony frisiert.
    Die Brille mit dem roten Gestell, die sie benutzte, wenn sie arbeitete, saß vorne auf der Nase. Das Kratzen, das ich hörte, war das Geräusch ihres burgunderroten Mountblanc-Füllers, mit dem sie in ihr ledergebundenen Notizbuch schrieb.
    Ich beobachtete sie einen Moment, so, wie ich sie in letzter Zeit immer gesehen hatte, als Fremde. Wie jemanden im Fernsehen, nicht wie jemanden, mit dem ich zusammenlebte.
    Ich folgte ihrem Blick zu meiner jüngeren Schwester, Annie, die neben einem Regal stand. Aus irgendwelchen Gründen trug Annie das rote Samtkleid, das sie letztes Jahr extra für Weihnachten bekommen hatte und das jetzt einige Nummern zu klein war. Es wäre unverschämt kurz, wenn nicht die schwarz-weiß gestreifte Strumpfhose und die gelben Gummistiefel mit Entenköpfen auf den

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