Wer Schuld War
furchtbar sei und dass sie aus den Sorgen nicht mehr herauskäme. Widerwillig erkundigt
sich Gina, was denn los sei, und nimmt sich dabei einen Apfel aus dem Obstkorb,denn wenn sie mit ihrer Mutter telefoniert, muss sie entweder essen, trinken oder rauchen, manchmal auch mit abgedrehtem Ton
fernsehen, als wären all diese Ablenkungen eine Art Schutzwall vor den Dingen, die sie nicht hören und nicht wissen will,
und denen sie trotzdem nicht entkommt. Irgendwann einmal hat sie sich den Erfolg auch deshalb gewünscht, weil sie glaubte,
dass ihre Eltern dann stolz und glücklich wären, weniger pessimistisch und mürrisch als bisher. Es ist anders gekommen, alles
eher schlimmer als besser geworden, denn seitdem sich ihre Bilder tatsächlich recht gut verkaufen und sie in der Kunstbranche
einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, geben ihr die Eltern mehr denn je das Gefühl, ihnen etwas schuldig geblieben
zu sein.
»Regine, ich muss dir etwas mitteilen«, sagt die Mutter mit dem panikartigen Vibrato in der Stimme, das noch unangenehmere
Nachrichten als sonst verheißt, und Gina geht mit dem Telefon am Ohr ins Bett zurück, kriecht unter die Decke, um ihre kalten
Füße zu wärmen, und würde sich am liebsten noch das Kissen über den Kopf legen, während ihre Mutter berichtet, dass der Mann
von Ginas Schwester eine Affäre habe und sich scheiden lassen wolle, und was Gina dazu meine.
»Wieso denn gleich scheiden lassen? Geht das denn schon so lange?« Gina angelt sich eine Zigarette aus der Schachtel auf dem
Nachtkästchen. Nach dem Knäckebrot und dem Apfel ist das jetzt die dritte orale Belohnung, die sie sich zukommen lässt, weil
sie nicht etwa auflegt, sondern sich diese langweiligen traurigen Geschichten bis zum bitteren Ende anhört. »Mo-na-te-lang«,
ruft ihre Mutter voll gerechter Empörung, so, als hätte sie genau auf diese Frage gewartet, und Gina hält den Hörer etwas
weiter weg, aber sie hört es trotzdem herausquäken, dass »diese Frau« nun auch noch schwanger sei und sich nichtentblöde, Edwin deshalb unter Druck zu setzen, weshalb sich die Situation derart zugespitzt habe, dass …
»Von Edwin?«, unterbricht Gina, legt sich auf den Rücken und stößt eine Rauchsäule gegen die Zimmerdecke, die dort hängen
bleibt wie eine Nebelschwade, während ihre Mutter ruft: »Natürlich von Edwin. Es ist furchtbar.«
»Mhm.«
»Rauchst du etwa schon wieder?«
»Nein.«
»Ich hör das doch. Ich dachte, du rauchst nicht mehr.«
»Tue ich auch nicht.«
»Und was ist dann für ein Geräusch?«
»Was sagt Edwin zu der ganzen Sache?«
»Lenk nicht ab.«
»Das tue ich nicht. Ich will es wirklich wissen.«
Ihre Mutter seufzt, als gebe sie sich geschlagen, dabei will
sie
doch darüber reden, nicht Gina,
sie
ist es doch, die beim geringsten Problem sofort zum Telefon greift, als wollte sie ihr ein für alle Mal den Spaß an der Tatsache
verderben, dass sie als Einzige dieser Familie entkommen ist. »Du kennst ihn doch«, fügt sie hinzu, und nichts wäre jetzt
einfacher gewesen, als sich solidarisch am Gejammer zu beteiligen, und nicht zum ersten Mal fragt sich Gina, warum sie immer
gerade das nicht macht, was man sich von ihr wünscht und erwartet.
»Tut er so, als ginge ihn das alles nichts an?«, fragt sie, aber das ist es natürlich nicht, was ihre Mutter hören will, das
klingt viel zu distanziert und ironisch, und prompt kommt die gereizte Replik: »Dich scheint das ja alles nicht zu beeindrucken.«
»So etwas passiert jeden Tag, Mama.«
In Ginas Erinnerung ist Edwin relativ groß und schlaksig, und wirkt immer leicht abwesend; und dazu passtauch, wie er seine Frau behandelt, nämlich mit einer vorsichtigen Ratlosigkeit, als würde er sie kaum kennen, als sei er mehr
oder weniger unabsichtlich in diese Ehe hineingeschlittert und völlig ohne sein Zutun Vater von drei Kindern geworden.
»Was sollen wir jetzt bloß machen, Regine?«
»Ich weiß es nicht. Das muss Susanne entscheiden.«
Gina weiß, dass sie um den heißen Brei redet, wie es jeder in dieser Familie tut; in ihrer Familie fragt man nicht nach, sondern
weiß immer schon Bescheid, man widerspricht auch nicht, sondern nickt und lächelt traurig oder böse, und dann denkt man sich
seinen Teil. Wie kommt es nur, dass wir alle ständig enttäuscht voneinander sind, denkt Gina und stellt den Zigarettenstummel
mit dem Filter nach unten auf den Nachttisch, wo er langsam verglimmt und einen
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