Wer Schuld War
ängstlich und verbissen und dadurch älter, als sie ist, und wieder
senkt sich der altvertraute Schatten auf ihr Gemüt.
»Damit kann nicht jeder leben«, sagt Manuel, und Pilar beugt sich näher zu ihm, teils um ihn besser zu verstehen, teils weil
die Anziehungskraft fast unerträglich geworden ist.
»Ich schon«, sagt sie.
»Bist du sicher?«
»Ich kann damit leben. Mit Ehrlichkeit.«
»Wirklich wahr?« Er sieht sie skeptisch an, skeptisch und gleichzeitig liebevoll, eine unglaubliche Mischung, während um sie
herum der Lärm wogt, die Leute nun schon zwischen den Tischen herumstehen und sich mit ihrem Flaschenbier in der Hand anschreien
müssen. Wieder nehmen sie sich an den Händen, lächeln sich an.
»Ja, wirklich. Ich hatte immer Männer, die sehr viel gelogen haben. Aus Angst, aus Bequemlichkeit, aus Liebe. Ich bin bereit
für Ehrlichkeit.«
»Das sagen die meisten Frauen. Aber dann wollen sie doch nur hören, was sie hören wollen.«
»Honorierst
du
denn Ehrlichkeit?«
Manuel lächelt sie an. »Getroffen«, sagt er, und dann bringt die Bedienung wie auf Kommando die zweite Runde, Weißwein für
Manuel, Rotwein für Pilar, und sie lassen sich los und schweigen, während sie die beiden Gläser hinstellt. Pilar lächelt ihr
versuchsweise zu und bekommt einen freundlichen Blick zurück, der gleichwohl sagt, dass sie nicht dazugehört, nie wieder dazugehören
wird. Pilar betrachtet ihr Handy, das stumm und dunkel vor ihr liegt. »Du machst dir zu viele Sorgen«, sagt Manuel, und Pilar
nickt verzagt und schiebt das Handy zur Seite.
»Das tut ihr alle«, sagt Manuel, und eine kleine Falte taucht zwischen seinen Augenbrauen auf, als wären ihre Sorgen plötzlich
seine Sorgen.
»Wen meinst du mit alle?«, fragt sie, aber sie kann sichschon denken, was er antworten wird; es sind ihre eigenen dunklen Vermutungen und Ängste, die er ausspricht.
»Frauen. Angeblich seid ihr das starke Geschlecht. Schade, dass man davon so wenig merkt.«
»Wir übernehmen Verantwortung. Für den Zustand der Welt, für das Wohlergehen unserer Kinder. Das ist Stärke. Eure Stärke besteht
nur darin, euch aus allem herauszuhalten.«
»Das wiederum liegt an euch.«
»Wie billig.«
»Ihr seid nicht konsequent. Ihr sucht den starken Mann und beschwert euch, wenn ihr ihn nicht findet. Sobald ihr selber stark
seid …«
»Will kein starker Mann mehr etwas von uns wissen.
Das
ist die Wahrheit. Ihr wollt die schwache Frau. Die, die keinen Nagel in die Wand schlagen kann. Die, die sagt: Könntest du
das machen, Schatz? Bitte: Hier habt ihr sie. Es ist alles eure Schuld.«
»Wir wollen keine schwachen Frauen. Wir wollen Frauen, die uns nicht bedrängen und die nicht von uns verlangen, ihrem Leben
einen Sinn zu geben.«
»Das ist doch gar nicht wahr, Manuel. Eine Frau, die euch nicht braucht, würdet ihr gar nicht bemerken.«
»Das käme auf einen Versuch an.«
»Da muss nichts versucht werden, ich kenne die Art Frauen, von denen du sprichst. Sie sind schön, sie sind stark, und sie
sind allein.«
»Dann sagt euch doch los von den Männern! Kämpft für eure Welt, für eure Sicht der Dinge!«
»Wir haben Söhne, die wir lieben, und um die wir uns Sorgen machen. Wir können sie nicht einfach so der Welt überlassen, wir
müssen ihnen Rüstzeug mitgeben, damit sie überleben können, denn die Väter übernehmen dieseAufgabe nicht. Die Väter sind damit beschäftigt, Frauen zu schwängern, die ihre Töchter sein könnten.«
Sie schweigen. Manuel winkt der Kellnerin zu und zahlt die vier Glas Wein, und schließlich stehen sie auf der Straße, die
sich an diesem milden Herbstabend gefüllt hat. Viele Leute sind unterwegs, einige Lokale haben Stühle und Tische nach zwei
kalten Regenwochen wieder nach draußen gestellt, und Pilar zieht ihre Strickjacke über, denn mild oder nicht, ihr ist es in
diesem Land nie warm genug. Sie spürt Manuels Arm, der ihren Rücken wärmt, seine Hand auf ihrem Oberarm, und es ist so verführerisch,
dieser Sehnsucht nachzugeben, aber es geht nicht, nicht hier, nicht jetzt. Ohne es so zu meinen, sagt sie, dass er jetzt gehen
müsse, aber natürlich geht er nicht, stattdessen holt er tief Luft und schließt sie jetzt richtig in die Arme.
»Ich weiß schon«, sagt er, und sie spürt seinen warmen Atem an ihrem Ohr. »Aber ich kann nicht.«
»Bitte. Ich muss nach Hause, nach Philipp sehen.«
»Philipp ist nicht zu Hause. Wenn er es wäre, hätte er sich
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